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Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman

Titel: Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Grant
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warum sollte nicht auch eine Schildkröte in den Genuss von Regen kommen. Ich war neugierig. Ich war noch ziemlich jung. Und ich war abenteuerlustig.
    Schildkröte, komm!
    Nicht zu fassen, dass bei Shakespeare eine Schildkröte vorkommt. Das ändert natürlich alles.
    Jedenfalls wachte ich am fünfzigsten Morgen in der Wüste auf, nachdem ich am Vortag nur unwesentlich vorangekommen war, und dachte: O Gott, werde ich je wieder Farben sehen. Denn so weit das Auge reichte, sah ich nur Braun und das heiße, endlose Blau des Himmels, und das zählte nicht.
    Ich war der Verzweiflung nahe. Ich würde niemals Bäume sehen. Ich würde niemals Regen spüren. Erlöse mich von meinem Elend. Ich reckte die Faust gen Himmel. Ich versuchte sogar, mich auf den Rücken zu wälzen. Doch just, als ich mich auf die Seite hieven wollte, landete ein roter Schmetterling auf einem Stein direkt vor meiner Nase.
    Langsam hob und senkte er die Flügel, wie zwei Fächer.
    Na, du.
    Am liebsten hätte ich diesen Schmetterling gefressen, so schön war er, so rot. Ich saß eine kleine Ewigkeit ganz still (was mir nicht weiter schwerfällt) und ließ seine Schönheit auf mich wirken. Was diese Sonnenbrillenaugen wohl sahen. Eine braune Schildkröte. Ich schämte mich meines unscheinbaren Äußeren.
    Ich schäme mich meines unscheinbaren Äußeren, sagte ich.
    Ich auch, sagte der Schmetterling.
    Ich war verblüfft. Was! Aber weißt du denn nicht, was für ein Kunstwerk du auf dem Rücken trägst.
    Wieso Kunstwerk.
    Tja. Das war ein erhellender Moment. Denn wenn selbst ein Schmetterling ein solches Kunstwerk auf dem Rücken tragen konnte, ohne es zu wissen, was trug dann erst eine Schildkröte auf ihrem Rücken.
    Offenbar Kunstwerk genug, um Shakespeare zu inspirieren.
    Ein Jahrhundert später durchquerte ich die Wüste noch einmal auf dem Armaturenbrett eines Autos. Was ich nur empfehlen kann. Es dauerte zwei Tage. Zwei äußerst geruhsame Tage.
     
    Der Tomatenstrauch verliert Tomaten. Bisweilen fallen sie erstaunlich weit vom Stamm. Und als Chuck vorhin den Prospero gespielt hat, fiel eine Tomate auffallend weit vom Stamm. Sie warf sich Chuck förmlich entgegen. Was Shakespeares Schildkröte überaus witzig fand. Sie lachte sich fast kaputt. Endlich begriff sie, was der Tomatenstrauch im Schilde führte.
    Jetzt rächt Chuck sich an dem armen Strauch, indem er sämtliche Tomaten auf einmal isst, selbst die grünen.
    Er wird sich allenfalls den Magen verderben, dieser Trottel. Was ist er heute doch für ein Antonio.
    Es klopft an der Tür.
    Chuck bleibt der Bissen buchstäblich im Halse stecken. Er hustet. Wischt sich die Hände an seiner nackten Brust ab. Was ich ziemlich eklig finde. Macht die Tür auf.
    Ich wollte die Schildkröte abholen, sagt eine vertraute Stimme.
    Ich wende den Kopf und werfe einen Blick über die Schulter. Cliff!
     
    M itten in London kommt ein weißes Pferd im leichten Galopp aus dem Nebel und rennt mich fast über den Haufen.
    Das ist der Reitweg, Miss.
    Reitwege. Mitten in der Stadt.
    Und vor kaum fünf Minuten habe ich in einer Starbucks-Filiale nach dem Weg gefragt.
    London: Menschenmassen, Starbucks und scheußliche Handtaschen. Und ein Pferd, das mittendurch galoppierte. Der Nebel ist weiß. Wenn man ganz nahe an den Rosenstock herangeht, kann man die müden gelben Rosen sehen. Schrecklich blass.
     
    Onkel Thoby hat einmal gesagt, ich würde die U-Bahn lieben. Wie man sich doch irren kann. Den Stadtplan finde ich super. In Heathrow habe ich mir einen Stadtplan gekauft, der sich wie eine Blume öffnete, mit sechs Blütenblättern. Man konnte entweder ein oder zwei oder alle sechs Blütenblätter auf einmal öffnen. Ich fand es super, dass die underground auf dem Plan wie ein großes Spinnennetz aussah. Und das Wort underground fand ich auch super. Aber wie voll die U-Bahn war, das fand ich überhaupt nicht super. Ich konnte noch nicht einmal ein Blumenblatt meines Stadtplans öffnen.
    Ich geriet mitten in den morgendlichen Berufsverkehr. Was ich erwartet hatte. Na, dass sich die Klaustrophobiker vereinen! Ich hatte erwartet, dass jemand aufsteht und sich zur Wehr setzt gegen dieses grässliche Gedränge. Pustekuchen. Und gerade, als ich dachte, jetzt passt nun wirklich niemand mehr hinein, quetschten sich zehn grauuniformierte Schulmädchen in den Waggon. Nach drei Stationen stiegen neun Schulmädchen aus. Ein Mädchen hatte wohl etwas Besseres vor.
    Das war mein erster Eindruck von London.
    Und dass alle nur Augen

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