Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers: Roman
vorne ist der Osten zu Ende. Österlicher geht es nicht.
Eine Taube kam angewatschelt und betrachtete das Flugzeug. Dann wandte sie den Kopf, als ob sie sagen wollte: Ich habe doch nicht etwa das Licht angelassen. Worauf ich sicherheitshalber auch noch einmal nachsah. Aber es war zum Glück aus.
Du könntest über diesen Zaun fliegen, sagte ich zu ihr.
Viel zu anstrengend.
Aber Tauben können doch fliegen.
Ich hab den Bauch voll Donutbällchen.
Ach so.
Mein Dad hat mir einmal erzählt, dass Tiere, die fliegen können – Vögel, Fledermäuse und dergleichen – ein kleineres Genom haben als Tiere, die nicht fliegen können. Als ob ihnen ein Teil des genetischen Codes fehlen würde. Und genau dieser fehlende Teil ermöglicht ihnen das Fliegen. Eigentlich würde man das Gegenteil erwarten. Nämlich dass ein Tier, das fliegen kann, ein größeres Genom besitzt. Einen zusätzlichen, quasi hintendrangeklebten Code, der besagt: Du Kannst Fliegen. Aber nein. Stattdessen haben wir einen zusätzlichen Code. Und dieser zusätzliche Code besagt: Du Kannst Nicht Fliegen. Ein nicht unerheblicher Teil unsres Genoms dient allein dazu, uns am Boden festzuhalten.
Als Onkel Thobys Flugzeug das Ende der Rollbahn erreicht hatte, wendete es langsam. Jetzt gürtete es die Lenden. Ach bitte bitte bitte. Flieg Qantas.
Murph kommt in Latzhosen und strahlt über das ganze Gesicht. Er geht in die Hocke, auf Augenhöhe mit dem Knauf, und sagt, das alte Schloss müsse raus. Er werde ein Sicherheitsschloss einbauen. Er flitzt zu seinem Van und kommt mit dem Sicherheitsschloss zurück. Industriegrau. Ich schüttele den Kopf. Wir mögen Messing. Wir mögen unser altes Schloss. Das vielleicht nicht ganz so sicher, dafür aber umso schöner sei.
Ich drücke Murph den alten Türknauf in die Hand. Lasse ihn für sich sprechen. Sieh mich an. Sieh dich selbst in mir. Reparier mich.
Murph sagt, man könne das Schloss nicht reparieren. Man könne es nur auswechseln. Das alte Schloss sei mindestens vierzig Jahre alt. Die nötigen Ersatzteile seien in alle vier Winde zerstreut.
Wie bitte.
Nicht mehr aufzutreiben.
Ich erkläre ihm, mein Dad und Onkel Thoby seien verreist, und da sie an die alte Tür gewöhnt seien, die sich nur mit einem geheimen Familienschubs aufstoßen lasse, sei mir nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass sie, wenn sie bei ihrer Rückkehr das neue Schloss vorfänden, nicht wüssten, wie sie ins Haus gelangen sollen. Darum wäre es mir lieb, wenn ich das alte Schloss behalten könnte.
Das mit deinem Vater tut mir leid, sagt Murph, ohne mich anzusehen. Jim hat mir erzählt, dass er gestorben ist.
Ich setze mich auf die Verandatreppe.
Habt ihr eine Hintertür.
Nein.
Es schneit. Mit einem zähneknirschenden Geräusch bricht Murph das alte Schloss aus der Tür. Als ich das höre, kommen mir die Tränen. Murph hält inne, wendet den Kopf und wirft mir einen Blick zu. Ich stehe auf und gehe hinters Haus. Ich schaue durchs Küchenfenster. Das Telefon blinkt. Eine Nachricht.
Ich drehe eine Runde. Sehe die Post durch. Schon wieder eine Rückrufnotiz für meinen Dad und ein Brief von der Kriegsversehrtenhilfe für Mr. Rudder, den Vorbesitzer, der tot ist. Der auch tot ist.
Murph erzählt mir, dass Jim Ryan bei der Stab gewesen sei. Der was. Der Constabulary. Ach. Murph habe der Polizei schon des Öfteren geholfen. Wobei. Einbrüche. Mehr dürfe er mir leider nicht verraten. Daher kenne er Jim. Außerdem habe er ein Doppelzylinderschloss in die Haustür der Ryans eingebaut.
Das da ist aber kein Doppelzylinderschloss.
Nein, Kleine.
Ich lehne entspannt am Geländer. Ich erzähle, dass ich eine Biografie über Jim Ryan geschrieben hätte. Die exakt zwei Sätze lang gewesen sei. Damals hätte ich noch nicht gewusst, dass er bei der Polizei gewesen sei. Sonst wäre mein Werk vermutlich drei Sätze lang gewesen.
Die Idee, eine Biografie über seinen Nachbarn zu schreiben, findet Murph urkomisch.
Warum.
Achselzuckend kramt er in seinem Werkzeugkoffer. Warum schreibst du nicht auch eine über mich. Ich habe interessante Kinder.
Mit Biografien bin ich durch.
Wenn du wieder mal was schreibst, kannst du mich ja darin erwähnen.
Gut, dann schreibe ich Ihnen einen Scheck.
Er lacht.
Im Haus riecht es nach vergammeltem Essen. Der Leichenschmus. Ich schleppe Sägemehl durchs Haus. Bitte, lass die Nachricht von Onkel Thoby sein: Ich bin in Montreal. Es war ein Irrtum. Ich komme nach Hause.
Aber nein. Sie ist von Judd
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