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Die erste Nacht - Roman

Die erste Nacht - Roman

Titel: Die erste Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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und in seiner ganzen Laufbahn hatte er keinen ähnlichen Fall erlebt. Doch ich hätte, so erklärte er dann schulterzuckend, gut auf die Medikamente reagiert, und das sei die Hauptsache. Noch einige Tage Erholung, dann könnte ich mein normales Leben wieder aufnehmen. Der diensthabende Arzt versprach, mich in einer Woche zu entlassen. Kaum war er hinausgegangen, traf Keiras Pass ein. Ich öffnete den Umschlag, der den wertvollen Freibrief enthielt, und fand einige Zeilen von Jeanne.
    »Bringen Sie mir meine kleine Schwester schnell zurück, ich verlasse mich ganz auf Sie, Keira ist meine einzige Familie.«
    Ich faltete den Zettel zusammen und schlug das Dokument auf. Auf dem Foto sah Keira noch etwas jünger aus. Ich beschloss, mich anzuziehen.
    Als Walter eintrat, überraschte er mich in Hemd und Boxershorts und erkundigte sich, was ich vorhatte.
    »Ich fahre sie abholen, und versuchen Sie erst gar nicht, mich davon abzubringen, das wäre verlorene Liebesmühe.«
    Er versuchte es tatsächlich nicht und half mir sogar bei der Flucht. Er hatte sich oft genug beklagt, dass zur Mittagszeit niemand im Krankenhaus zu finden sei, und diese Situation gelte es jetzt zu unserem Vorteil zu nutzen. Er hielt im Flur Wache, während ich meine Sachen packte, und achtete auf dem Weg zum Aufzug darauf, dass wir auch wirklich niemandem vom Personal begegneten.
    Als wir am Nachbarzimmer vorbeikamen, stand in der offenen Tür ein kleines Mädchen. Sie trug einen Schlafanzug mit Marienkäfern und winkte Walter zu.
    »Na, meine Kleine«, sagte er und ging zu ihr, »ist deine Mama noch nicht da?«

    Als die beiden ein verschwörerisches Augenzwinkern wechselten, wurde mir klar, dass er meine Zimmernachbarin gut kannte.
    »Sie hat Ihnen mehrmals einen Besuch abgestattet«, erklärte er.
    Nun beugte auch ich mich zu ihr, um sie zu begrüßen. Sie sah mich schelmisch an und lachte - ein helles Lachen. Sie hatte rote Apfelbäckchen.
    Alles verlief zunächst bestens, und wir erreichten problemlos das Erdgeschoss. Im Aufzug begegneten wir einem Sanitäter, der aber schenkte uns keine Beachtung. Das sollte sich ändern, denn als sich die Lifttüren zur Halle öffneten, trafen wir direkt auf meine Mutter und Tante Elena, was jeden Fluchtversuch zum Albtraum machte. Mama schrie auf, was ich hier zu suchen hätte. Ich nahm sie beim Arm und flehte sie an, mir nach draußen zu folgen, ohne einen Skandal auszulösen. Hätte ich sie gebeten, mitten in der Cafeteria Sirtaki zu tanzen - mein Flehen wäre ebenso wenig erhört worden.
    »Die Ärzte haben ihm einen kleinen Spaziergang erlaubt«, erklärte Walter, um meine Mutter zu beruhigen.
    »Und auf diesen kleinen Spaziergang nimmt er seine Reisetasche mit? Halten Sie mich für total senil und wollen mich in die Geriatrie schicken?«, wetterte sie.
    Sie wandte sich an zwei Sanitäter, die zufällig des Weges kamen, und ich erriet auf der Stelle ihre Absicht: mich in mein Zimmer zurückbringen zu lassen, wenn nötig mit Gewalt.
    Ich sah Walter an, und wir verstanden uns sofort. Während Mama zu einer Schimpfkanonade ansetzte, legten Walter und ich einen Sprint zur Eingangstür hin und rannten hinaus, bevor irgendwer auf die Forderungen meiner Mutter reagieren konnte, die vehement verlangte, man solle mich wieder einfangen.

    Ich war natürlich noch nicht in Hochform. Gleich an der nächsten Ecke spürte ich ein Brennen in der Brust, und ein heftiger Hustenanfall überkam mich. Ich rang nach Luft, mein Herz klopfte zum Zerspringen, und ich musste stehen bleiben. Walter drehte sich um und sah zwei Sicherheitsleute, die in unsere Richtung gelaufen kamen. Seine Geistesgegenwart war wieder einmal verblüffend. Er hinkte auf die beiden zu und erklärte, er sei von zwei Typen, die in eine der Nebenstraßen geflohen wären, heftigst angerempelt worden. Während die Wächter in die angegebene Richtung rannten, winkte Walter ein Taxi heran und machte mir ein Zeichen.
    Die ganze Fahrt über sagte er kein Wort, und mich beunruhigte diese plötzliche Schweigsamkeit, deren Grund ich nicht verstand.
     
    Sein Hotelzimmer wurde zu unserem Hauptquartier, wo wir meine Reise vorbereiteten. Das Bett war groß genug für uns beide. Walter hatte es in der Länge mit einer Nackenrolle unterteilt, um unser jeweiliges Territorium abzugrenzen. Während ich mich ausruhte, verbrachte er seine Zeit am Telefon. Bisweilen ging er hinaus, um Luft zu schnappen, wie er erklärte. Das war so ungefähr das Einzige, was er zu sagen geruhte,

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