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Die erste Nacht - Roman

Die erste Nacht - Roman

Titel: Die erste Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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Jeanne nicht eilig, mit mir zu reden, da sie mich für Keiras Schweigen mitverantwortlich machte und auch mir vorwarf, mich nicht gemeldet zu haben. Ich rief ein letztes Mal an und sagte der Empfangsdame, ich müsse Jeanne unbedingt sprechen, es ginge um ihre Schwester und um Leben und Tod.
    »Was ist mit Keira?«, fragte Jeanne mit bebender Stimme.
    »Uns beiden ist etwas zugestoßen«, sagte ich kleinlaut, »ich brauche jetzt Ihre Hilfe, Jeanne.«
    Ich erzählte ihr die Geschichte, verharmloste aber die Ereignisse am Gelben Fluss, sprach von dem Unfall, ohne näher auf die Umstände einzugehen, unter denen er sich ereignet hatte. Ich versicherte ihr, Keira sei außer Gefahr, und erklärte, sie sei wegen der verlorenen Papiere verhaftet worden und werde nun
in China festgehalten. Das Wort Gefängnis vermied ich lieber, denn ich spürte, wie betroffen Jeanne bei jedem meiner Sätze war. Mehrmals unterdrückte sie ein Schluchzen, und auch ich musste meine Gefühle beherrschen. Ich bin kein guter Lügner, wirklich nicht. Jeanne begriff schnell, dass die Situation besorgniserregender war, als ich zugeben wollte. Sie ließ mich wieder und wieder schwören, dass es ihrer kleinen Schwester gut ginge. Ich versprach, sie heil und gesund zurückzubringen, und erklärte, dass ich dazu jedoch so schnell wie möglich ihre Papiere benötigte. Jeanne wusste nicht, wo sie waren, doch sie würde sofort das Büro verlassen, um ihre Wohnung, wenn nötig, auf den Kopf zu stellen und mich dann gleich zurückzurufen.
    Nachdem ich aufgelegt hatte, verfiel ich in Trübsal. Mit Jeanne zu sprechen, hatte die Sehnsucht nach Keira wieder voll aufleben lassen, hatte Kummer und Schmerz neu entfacht.
     
    Noch nie war Jeanne so schnell durch Paris gefahren. Sie ignorierte zwei rote Ampeln, wich in letzter Sekunde einem Lieferwagen aus, geriet auf dem Pont Alexandre III ins Schleudern und bekam ihren kleinen Wagen unter dem wilden Gehupe der anderen gerade noch in den Griff. Sie wählte die Busspur, dann, auf einem verstopften Boulevard, gar den Bürgersteig, wobei sie beinahe einen Radfahrer gestreift hätte, doch wie durch ein Wunder erreichte sie unversehrt ihr Ziel.
    Im Eingang klopfte sie bei Madame Hereira und flehte sie an, ihr zu helfen. Noch nie hatte die Concierge Jeanne in einem solchen Zustand gesehen. Da der Aufzug von Lieferanten im dritten Stock blockiert war, liefen sie die Treppe im Eiltempo hinauf. In der Wohnung angekommen, wies Jeanne Madame Hereira an, die Küche und den Salon zu durchsuchen, sie selbst wollte sich das Schlafzimmer vornehmen. Nichts durfte
dem Zufall überlassen bleiben, jeder Schrank musste geöffnet, jede Schublade geleert werden, Keiras Pass - wo auch immer er sein mochte - musste gefunden werden.
    Nach einer Stunde glich Keiras Wohnung einem Schlachtfeld. Kein Einbrecher hätte eine solche Unordnung schaffen können. Die Bücher aus dem Regal lagen am Boden, in allen Zimmern waren Kleidungsstücke verstreut, die Sessel umgedreht und das Bettzeug heruntergerissen. Jeanne begann schon die Hoffnung aufzugeben, als sie Madame Hereiras Schrei auf dem Flur hörte. Sie lief zu ihr. Die Konsole, die ihr als Schreibtisch diente, war zwar in einem unglaublichen Zustand, doch die Concierge schwenkte triumphierend das kleine Büchlein mit dem bordeauxroten Einband. Jeanne schloss sie in die Arme und küsste sie auf beide Wangen.
     
    Walter war bereits in sein Hotel zurückgekehrt, und als Jeanne mich anrief, war ich allein in meinem Zimmer. Ich bat sie, von Keira zu erzählen, wollte, dass sie ihre Abwesenheit mit Erinnerungen aus ihrer gemeinsamen Kindheit füllte. Jeanne tat es gerne, ich glaube, sie fehlte ihr ebenso wie mir. Sie versprach, mir den Pass per Eilpost zu schicken. Ich gab ihr die Adresse des Athener Klinikums durch, und schließlich fragte sie mich, wie es mir ginge.
     
    Am übernächsten Tag dauerte die Visite der Ärzte länger als gewöhnlich. Mein Fall gab dem Leiter der pneumologischen Abteilung immer noch Rätsel auf. Niemand vermochte zu erklären, wie eine so heftige Lungeninfektion ohne Vorankündigung auftreten konnte. Tatsache ist: Als ich an Bord der Maschine ging, war ich bei bester Gesundheit. Der Arzt versicherte mir, hätte diese Stewardess nicht die Geistesgegenwart besessen, den Flugkapitän zu informieren, und wäre dieser nicht umgekehrt,
so hätte ich Beijing wohl nicht lebend erreicht. Auch sein Team konnte sich keinen Reim darauf machen, es handelte sich nicht um einen Virus,

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