Die erste Nacht - Roman
Zeit zum Atmen genommen habe.«
Ich war so glücklich, dass ich ihn in einen wilden Reigen verstrickte. Wir tanzten noch immer durch mein Krankenzimmer, als meine Mutter hereinkam. Sie sah uns an und schloss die Tür schnell wieder.
Wir hörten sie auf dem Flur tief seufzen, woraufhin Tante Elena zu ihr sagte: »Du willst doch wohl nicht wieder damit anfangen?«
Mir war etwas schwindelig, und ich musste mich wieder hinlegen.
»Wann wird sie freigelassen?«
»Ah, Sie haben anscheinend die andere kleine Nachricht vergessen, die Sie zuerst hören wollten. Ich werde sie also wiederholen. Der chinesische Richter lässt Keira frei, wenn wir innerhalb von sechs Tagen einen gültigen Pass vorlegen können. Nachdem dieser wertvolle Sesam-öffne-dich am Grunde eines Flusses ruht, brauchen wir einen neuen. In Abwesenheit der Betroffenen jedoch und innerhalb so kurzer Zeit ist das schier unmöglich. Verstehen Sie unser Problem jetzt besser?«
»Wir haben nur sechs Tage Zeit?«
»Wenn Sie einen rechnen, um zum Gerichtshof von Chengdu zu gelangen, bleiben nur noch fünf zum Herbeizaubern eines Passes. Ich weiß nicht, wie wir das bewerkstelligen sollen, außer es geschieht ein Wunder.«
»Muss es unbedingt ein neuer Pass sein?«
»Falls Ihre Lungenentzündung auch Ihr Hirn geschädigt haben sollte, mache ich Sie darauf aufmerksam, dass ich nicht
die Uniform eines Zollbeamten trage! Ich nehme an, sofern es sich um ein gültiges Dokument handelt, müsste das ausreichen. Warum fragen Sie?«
»Weil Keira die englisch-französische Doppelstaatsangehörigkeit besitzt. Und da mein Gehirn völlig in Ordnung ist - danke der Nachfrage -, erinnere ich mich sehr gut daran, dass sie mit ihrem britischen Pass nach China eingereist ist, in diesen wurden auch die Visa eingetragen, und ich habe ihn selbst vom Reisebüro abgeholt. Sie hatte ihn immer bei sich. Als wir die Wanze gefunden und ihre Tasche gründlich durchsucht haben, war der französische Pass nicht darin, da bin ich ganz sicher.«
»In der Tat eine gute Neuigkeit, aber wo ist er dann? Ohne dass ich Ihre Freude trüben möchte, wir haben wirklich nur wenig Zeit, ihn zu beschaffen.«
»Keine Ahnung …«
»Da kann man wirklich behaupten, dass uns das weitergebracht hat. Ich erledige ein paar Anrufe, dann komme ich zurück. Ihre Tante und Ihre Mutter warten draußen, und ich möchte nicht unhöflich sein.«
Walter verließ das Zimmer, und sofort traten Tante Elena und Mama ein. Meine Mutter nahm in dem Sessel Platz, schaltete den Fernseher ein, der gegenüber von meinem Bett hing, und sprach kein Wort mit mir - was Tante Elena ein Lächeln entlockte.
»Walter ist wirklich charmant, nicht wahr?«, sagte meine Tante und setzte sich auf das Fußende meines Bettes.
Ich warf ihr einen eindringlichen Blick zu. Es war vielleicht nicht der geeignete Moment, um vor Mama darüber zu sprechen.
»Und noch dazu attraktiv, findest du nicht?«, fuhr sie fort und ignorierte meine stille Bitte.
Ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden, antwortete Mama an meiner Stelle: »Und ziemlich jung, wenn du meine Meinung hören willst! Aber tut nur so, als wäre ich nicht da. Was könnte nach einem Gespräch von Mann zu Mann natürlicher sein als eines zwischen Tante und Neffe? Mütter zählen ohnehin nicht! Sobald diese Sendung zu Ende ist, gehe ich auf ein Schwätzchen zu den Krankenschwestern. Vielleicht können die mir ja Neues von meinem Sohn berichten.«
»Du weißt, warum man von einer griechischen Tragödie spricht«, sagte Elena mit einem Seitenblick auf meine Mutter, die uns noch immer den Rücken zuwandte und die Augen starr auf den Fernseher geheftet hielt, wobei sie den Ton leise gestellt hatte, damit ihr nichts von unserer Unterhaltung entging.
Es lief ein Dokumentarfilm über Nomadenstämme, die auf den tibetischen Hochebenen leben.
»Herrgott, den zeigen sie mindestens schon zum fünften Mal«, seufzte Mama und schaltete den Apparat aus. »Warum ziehst du denn so ein Gesicht?«
»Kommt in dieser Reportage ein kleines Mädchen vor?«
»Ich weiß nicht, vielleicht, warum?«
Ich zog es vor, nicht zu antworten. Walter klopfte erneut an die Tür. Elena schlug vor, mit ihm in die Cafeteria zu gehen, damit - wie sie vorgab, während sie sich erhob - die Mutter auch etwas von ihrem Sohn habe. Walter ließ sich das nicht zweimal sagen.
»Damit ich etwas von meinem Sohn habe, dass ich nicht lache!«, rief meine Mutter, sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. »Du
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