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Die erste Nacht - Roman

Die erste Nacht - Roman

Titel: Die erste Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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hatte sich schon ins Gästezimmer zurückgezogen, doch ich drängte meine Mutter, sie zu rufen.
    Elena fand unsere Flucht sehr romantisch. Walter sei ein selten guter Freund, wenn er solche Risiken auf sich genommen habe. Ich musste ihr versprechen, meiner Mutter keinesfalls zu erzählen, was sie gerade gesagt hatte.
    Ich ging zu Walter, der nervös im Badezimmer auf und ab lief.
    »Und?«, fragte er ängstlich.
    »Ich glaube, an dem Wochenende, an dem ich mich in Beijing aufhalte, können Sie nach Hydra fahren. Meine Tante erwartet Sie zum Essen im Hafen, und ich rate Ihnen, ihr ein Moussaka zu bestellen, dafür hat sie eine Schwäche, aber das bleibt unter uns, ich habe Ihnen nichts gesagt.«
    Daraufhin schaltete ich erschöpft das Licht aus.
    Am Freitag brachte mich Walter zum Flughafen. Meine Maschine startete pünktlich. Als sie sich über Athen in den Himmel erhob und ich beobachtete, wie das Blau der Ägäis unter den Tragflächen verblasste, hatte ich ein eigenartiges Déjà-vu-Gefühl. In zehn Stunden wäre ich in China …

Beijing
    Sobald die Zollformalitäten geregelt waren, nahm ich eine Anschlussmaschine nach Chengdu.
    Am Flughafen empfing mich ein junger Dolmetscher, den die chinesischen Behörden geschickt hatten. Er fuhr mich zum Justizpalast. Stundenlang wartete ich auf einer harten Bank, dass der für Keiras Akte zuständige Richter mich zu empfangen geruhte. Jedes Mal, wenn ich eindöste - ich hatte seit zwanzig Stunden kein Auge zugetan -, versetzte mir mein Begleiter einen Rippenstoß, und jedes Mal seufzte er, um mir zu verstehen zu geben, dass er ein solches Verhalten an diesem ehrwürdigen Ort unschicklich fand. Am späten Nachmittag öffnete sich endlich die Tür, vor der wir ausharrten. Ohne mir die geringste Beachtung zu schenken, verließ ein beleibter Mann mit einem Stoß Akten unter dem Arm den Raum. Ich sprang auf und lief ihm nach - zum großen Entsetzen meines Dolmetschers, der eilig seine Sachen zusammenraffte und mir folgte.
    Der Richter blieb stehen und musterte mich, als hätte er ein seltenes Tier vor sich. Ich erklärte ihm den Grund meines Besuchs: Es war abgemacht, dass ich ihm Keiras Pass vorlegte, damit er das gegen sie ausgesprochene Urteil aufhob und die Haftentlassung unterzeichnete. Der Dolmetscher kam, so gut er konnte, seiner Pflicht nach, doch seine unsichere Stimme verriet, wie sehr er die Autorität seines Gegenübers fürchtete. Der Richter wurde ungeduldig. Ich hätte keinen Termin und er keine Zeit für mich. Er führe am nächsten Tag nach Beijing,
wohin er versetzt worden wäre, und hätte vorher noch viel Arbeit zu erledigen.
    Ich versperrte ihm den Weg und verlor die Beherrschung, woran meine Müdigkeit gewiss nicht ganz unschuldig war.
    »Müssen Sie so grausam und gleichgültig sein, um sich Respekt zu verschaffen? Reicht es Ihnen nicht aus, Recht zu sprechen?«, fragte ich ihn.
    Mein Dolmetscher wurde beunruhigend bleich, begann zu stammeln und weigerte sich schließlich, meine Ausführungen zu übersetzen. Stattdessen zog er mich beiseite.
    »Haben Sie den Verstand verloren? Wissen Sie überhaupt, wen Sie da vor sich haben? Wenn ich Ihre Worte wiedergebe, verbringen wir beide die heutige Nacht im Gefängnis.«
    Ich schlug seine Warnung in den Wind, schob ihn beiseite und lief dem Richter nach, der unbeeindruckt seinen Weg fortgesetzt hatte. Wieder baute ich mich vor ihm auf.
    »Wenn Sie heute Abend eine Flasche Champagner öffnen, um Ihre Beförderung zu feiern, dann vergessen Sie nicht, Ihrer Frau zu sagen, Sie seien jetzt so mächtig und wichtig, dass das Los einer Unschuldigen Ihr Gewissen nicht mehr zu belasten vermag. Und wenn Sie Ihre Kanapees essen, erzählen Sie Ihren Kindern von Ehrgefühl, Moral und Anstand, von der Welt, die ihnen ihr Vater hinterlassen wird, eine Welt, in der unschuldige Frauen im Gefängnis sitzen, weil die Richter Besseres zu tun haben, als Recht zu sprechen. Bestellen Sie Ihrer Familie all das von mir, dann haben Keira und ich das Gefühl, ein wenig an der Feier teilzunehmen.«
    Diesmal zog mich mein Dolmetscher vehement zur Seite und flehte mich an zu schweigen. Während er mich zurechtwies, beobachtete uns der Richter und wandte sich schließlich an mich.
    »Ich spreche Ihre Sprache fließend, ich habe in Oxford studiert.
Ihr Dolmetscher hat sicher recht, es mangelt Ihnen an Erziehung, nicht aber an Unverschämtheit.«
    Der Richter sah auf seine Uhr. »Geben Sie mir den Pass und warten Sie hier, ich kümmere mich um

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