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Die erste Nacht - Roman

Die erste Nacht - Roman

Titel: Die erste Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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Sie.«
    Ich reichte ihm das Dokument, das er mir aus der Hand riss, um dann eilig in sein Büro zurückzukehren. Fünf Minuten später tauchten hinter mir zwei Polizisten auf, und noch ehe ich sie wirklich wahrgenommen hatte, legten sie mir schon Handschellen an und führten mich gewaltsam ab. Mein Dolmetscher, der völlig außer sich war, lief mir nach und schwor, gleich morgen die englische Botschaft zu informieren. Die Beamten befahlen ihm, sich zu entfernen, und bugsierten mich kommentarlos in einen Kastenwagen. Nach dreistündiger Fahrt über holprige Straßen kam ich im Hof des Gefängnisses von Garther an, das nichts von der Erhabenheit des alten Klosters meiner Fieberträume hatte.
    Meine Tasche, meine Uhr und mein Gürtel wurden konfisziert. Nachdem man mir die Handschellen abgenommen hatte, brachte mich ein Aufseher zu meiner Zelle, wo ich die Bekanntschaft meines Mitgefangenen machte. Er musste gut sechzig Jahre alt sein und war völlig zahnlos. Ich hätte gerne gewusst, was dieser harmlos wirkende Mann verbrochen hatte, um hier eingesperrt zu sein, doch jede Art von Verständigung schien unmöglich. Er belegte das obere Bett, also nahm ich das untere, was mir egal war, bis ich eine fette Ratte über den Boden huschen sah. Ich wusste nicht, welches Schicksal mir bevorstand, doch Keira und ich waren im selben Gebäude vereint, und diese Vorstellung half mir, in diesem Etablissement durchzuhalten, dessen einziger Stern der rote an der Mütze der Wärter war.
    Eine Stunde später wurde die Tür geöffnet, und ich folgte meinem Zellengenossen und dann einer langen Schlange Gefangener,
die die Treppe zum Refektorium hinunterliefen. Wir gelangten in einen riesigen Saal, in dem meine Hautfarbe Aufsehen erregte. Die Häftlinge saßen am Tisch und beäugten mich. Ich war auf das Schlimmste gefasst, doch nachdem sie sich über mich lustig gemacht hatten, senkte jeder den Blick auf seinen Teller. Angesichts der Brühe, in der Reis und ein paar dubiose Fleischstücke schwammen, beschloss ich ohne Bedauern, Diät zu halten. Schließlich nutzte ich die Gelegenheit und sah zu dem langen Gitter, das den Essraum der Frauen abtrennte. Mein Herz überschlug sich, Keira musste sich irgendwo unter den weiblichen Gefangenen befinden, die auf der anderen Seite der Absperrung aßen. Wie sollte ich ihr meine Anwesenheit kundtun, ohne die Aufmerksamkeit der Aufseher zu erregen? Sprechen war verboten, das hatte mein Nachbar durch einen Knüppelschlag zu spüren bekommen, nachdem er einen Kameraden um das Salz gebeten hatte. Ich stellte mir die Strafe vor, die ich mir einhandeln würde, hielt es aber nicht mehr aus, sprang auf, schrie ganz laut »Keira« und setzte mich schnell wieder.
    Kein Klirren des Bestecks, keine Kaugeräusche mehr. Die Wächter blickten durch den Saal, ohne sich zu rühren. Keiner von ihnen hatte den Übeltäter ausgemacht, der es gewagt hatte, gegen die Regeln zu verstoßen. Das bleierne Schweigen dauerte kurz an, dann hörte ich eine vertraute Stimme rufen »Adrian«.
    Alle männlichen Gefangenen wandten den Kopf zur Frauenabteilung, alle weiblichen Häftlinge den ihren zum Männersektor, desgleichen die Aufseher und Aufseherinnen, und so beobachtete man sich auf jeder Seite des großen Saals.
    Ich stand auf und lief zum Gitter, du ebenfalls.
    Die Wärter waren so verblüfft, dass sich zunächst keiner von der Stelle rührte.

    Die Gefangenen brüllten im Chor »Keira«, die Frauen schrien aus voller Kehle »Adrian!«
    Du warst nur noch wenige Meter von mir entfernt. Du warst bleich und du weintest, genauso wie ich. Wir traten an das Gitter, und dieser heiß ersehnte Augenblick gab uns so viel Kraft, dass keiner von uns an den drohenden Knüppel dachte. Unsere Hände vereinten sich zwischen den Stäben, die Finger umschlangen sich, ich drückte mein Gesicht an das Gitter, du legtest deinen Mund auf den meinen. In dieser chinesischen Gefängniskantine sagte ich dir, »ich liebe dich«, und du murmeltest, »ich liebe dich auch«. Dann fragtest du, was ich dort zu suchen hätte. Ich war gekommen, um dich zu befreien. »Im Inneren des Gefängnisses?«, fragtest du. Das stimmte, doch unter dem Ansturm der Gefühle hatte ich dieses Detail übersehen. Ich hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn ein Stockhieb auf die Oberschenkel zwang mich in die Knie, ein zweiter ins Kreuz warf mich zu Boden. Man brachte dich gewaltsam weg, du brülltest meinen Namen, dann brachte man auch mich weg, ich brüllte den

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