Die erste Nacht - Roman
Als ich wieder auf die Terrasse kam, nahm Keira ihre Kette ab und legte den Anhänger auf den Tisch. Sie führte die
beiden Teile zusammen, und sobald sie vereint waren, wiederholte sich das Phänomen, das wir schon auf der Insel Narcondam beobachtet hatten.
Die Fragmente nahmen eine nachtblaue Farbe an und begannen mit unglaublicher Intensität zu funkeln.
»Sollen wir es wirklich dabei belassen?«, fragte Keira und betrachtete das Objekt, dessen Helligkeit langsam nachließ. »Wenn ich ins Omo-Tal zurückkehre, ohne das Geheimnis gelüftet zu haben, kann ich meiner Arbeit nicht mehr mit der nötigen Sorgfalt nachgehen. Ich würde wahrscheinlich nur noch daran denken, was dieser Gegenstand uns enthüllen könnte, sollte es uns gelingen, alle Teile ausfindig zu machen. Und wenn wir schon von Versprechen reden, du hast mir auch ein anderes gegeben: nämlich mich mit einem Schlag dreihundertfünfundachtzig Millionen Jahre Zeit gewinnen zu lassen. Glaub nicht, dieser Vorschlag wäre auf taube Ohren gestoßen!«
»Ich weiß, was ich dir versprochen habe, Keira, aber das war, bevor vor unseren Augen ein Priester ermordet wurde, bevor wir um Haaresbreite von einer Felswand gestürzt und fast im Gelben Fluss ertrunken wären, und bevor du in einem chinesischen Gefängnis eingesperrt warst. Außerdem, haben wir überhaupt die geringste Ahnung, in welcher Richtung wir suchen sollen?«
»Ich habe dir schon gesagt: im hohen Norden. Das ist noch nicht sehr präzise, aber immerhin ein Anhaltspunkt.«
»Warum eher dort als anderswo?«
»Ich glaube, dass uns der auf Ge’ez verfasste Text darauf hinweist, darüber habe ich während meiner ganzen Haftstrafe in Garther nachgedacht. Wir müssen nach London zurück, ich muss Recherchen in der Bibliothek der Akademie machen, bestimmte Werke konsultieren, und ich muss mit Max reden, ich habe ihm ein paar Fragen zu stellen.«
»Du willst wieder zu deinem Druckereibesitzer?«
»Jetzt zieh nicht so ein Gesicht, das ist albern, außerdem habe ich nicht gesagt, dass ich ihn treffen, sondern dass ich mit ihm sprechen will. Er hat an der Übertragung dieser Handschrift gearbeitet. Wenn er irgendetwas entdeckt hat, benötigen wir diese Informationen … Ich will vor allem eine Sache mit ihm überprüfen.«
»Also fahren wir zurück, London ist ein guter Vorwand, Hydra zu verlassen.«
»Wenn es möglich ist, würde ich gerne über Paris fahren.«
»Also doch um Max zu sehen?«
»Nein, Jeanne. Und außerdem möchte ich Ivory einen Besuch abstatten.«
»Ich dachte, der alte Professor hätte das Museum verlassen, um auf Reisen zu gehen?«
»Ich bin auch auf Reisen gegangen, und wie du siehst zurückgekommen. Er vielleicht auch, wer weiß?«
Keira machte sich daran, ihr Gepäck zusammenzusuchen, während ich meine Mutter auf unsere Abreise vorbereitete. Walter war betrübt, als er hörte, dass wir die Insel verlassen wollten. Er hatte seinen Urlaub für die nächsten zwei Jahre verbraucht, doch er hoffte, das Wochenende noch auf Hydra zu verbringen. Ich bestärkte ihn, seine Pläne nicht zu ändern, es wäre mir eine Freude, ihn in der darauf folgenden Woche in der Akademie wiederzusehen, wohin auch ich mich begeben wollte. Diesmal würde ich Keira die Recherchen nicht allein vornehmen lassen, noch dazu, nachdem sie mir ihre Absicht angekündigt hatte, zuerst nach Paris zu reisen.
Amsterdam
Ivory war auf dem Sofa im Salon eingenickt. Vackeers deckte ihn zu und ging in sein Schlafzimmer. Einen guten Teil der Nacht hinderte ihn sein ständiges Grübeln daran zu schlafen. Sein alter Verbündeter bat ihn um Hilfe, aber wenn er ihm diese gewährte, gefährdete er sich selbst. Die Vorstellung, in den kommenden Monaten - wohl die letzten seiner Laufbahn - des Verrats überführt zu werden, behagte ihm gar nicht. Am frühen Morgen erhob er sich und machte Frühstück. Als der Teekessel pfiff, wachte Ivory auf.
»Eine kurze Nacht, nicht wahr?«, meinte er, als er am Küchentisch Platz nahm.
»Das kann man wohl sagen, doch ein Turnier wie das gestrige rechtfertigt das.«
»Ich habe nicht gemerkt, dass ich eingeschlafen bin. So etwas passiert mir zum ersten Mal. Tut mir leid, mich derart aufgedrängt zu haben.«
»Nicht der Rede wert, ich hoffe nur, die Rückenschmerzen von dem alten Chesterfield halten sich in Grenzen.«
»Ich glaube, ich bin älter als das Sofa«, spottete Ivory.
»Kein fishing for compliments, es ist ein Erbstück von meinem Vater.«
Dann herrschte Stille. Ivory
Weitere Kostenlose Bücher