Die erste Nacht - Roman
wesentlich akzeptabler ist.«
»Ich werde Sie enttäuschen müssen, aber die einzigen alten Objekte, für die ich mich interessiere, sind Fotoapparate.«
»Welch sonderbare Idee, aber es ist nie zu spät, eine weitere Sammlung anzufangen. Warten Sie, ich zeige Ihnen etwas, das Sie sicher faszinieren wird.«
Der alte Herr ging zu einem Regal und zog ein großes, ledergebundenes Werk heraus. Er legte es auf seinen Schreibtisch, rückte seine Brille zurecht und blätterte die Seiten mit größter Vorsicht um.
»Hier, sehen Sie, das ist die Zeichnung einer ganz besonderen Armillarsphäre. Wir verdanken sie Erasmus Habermel, dem Hofinstrumentenmacher von Kaiser Rudolf II.«
Ich beugte mich über den Stich und entdeckte zu meiner Verwunderung eine Darstellung, die der ähnelte, die Keira und ich unter der Tatze des steinernen Löwen auf dem Hua Shan gefunden hatten. Ich nahm auf dem Stuhl Platz, den der Antiquar mir hinschob, und studierte die eindrucksvolle Darstellung näher.
»Sehen Sie«, sagte der Mann, der sich über meine Schulter beugte, »von welch unglaublicher Präzision diese Arbeit ist? Was mich immer an den Armillarsphären fasziniert hat«, fuhr er fort, »ist eigentlich weniger die Tatsache, dass sie uns die Möglichkeit geben, die Position der Gestirne zu einem bestimmten Zeitpunkt zu errechnen, als vielmehr all das, was sie nicht zeigen, was wir aber dennoch ahnen.«
Ich hob den Blick von seinem kostbaren Werk und sah ihn neugierig an.
»Die Leere und ihr Freund, die Zeit!«, erklärte er heiter. »Was für ein eigenartiger Begriff - die Leere. Dabei ist sie angefüllt mit Dingen, die für uns unsichtbar sind. Was die Zeit betrifft, die vergeht und alles verändert, so beeinflusst sie die Bahn der Sterne und hält den Kosmos in ständiger Bewegung. Sie regt die gewaltige Spinne des Lebens an, die über das Netz des Universums spaziert. Diese Zeit, von der wir nichts wissen, ist eine beunruhigende Dimension, finden Sie nicht? Sie sind mir sympathisch, wie Sie mich so verblüfft anschauen, darum würde ich Ihnen das Werk zum Selbstkostenpreis überlassen.«
Der Antiquar nannte mir die Summe, die zu erzielen er hoffte. Keira fehlte mir, und so kaufte ich das Buch.
»Kommen Sie ruhig wieder vorbei, ich habe Ihnen noch andere Schätze zu zeigen«, sagte der Buchhändler leutselig, während er mich zum Eingang begleitete. »Ich versichere Ihnen, hier verschwenden Sie Ihre Zeit nicht.«
Er schloss die Tür hinter mir ab, und ich sah durch das Schaufenster, wie er im Nebenraum verschwand.
Da stand ich nun mit meinem dicken Buch unter dem Arm auf der Straße und fragte mich, warum ich es gekauft hatte. Mein Handy vibrierte in der Tasche. Ich nahm das Gespräch an und hörte Keiras Stimme. Sie schlug mir vor, sich später mit ihr bei Jeanne zu treffen, die uns gerne zum Abendessen einladen und beherbergen wollte. Ich würde auf dem Sofa schlafen, während sich die beiden Schwestern das Bett teilten. Und als würde dieses Programm nicht ausreichen, um mir den Nachmittag zu verderben, erklärte sie noch, sie würde jetzt zu Max gehen. Die Druckerei sei nicht weit von Jeannes Wohnung entfernt, zu Fuß wäre sie in zehn Minuten da. Sie fügte
hinzu, sie müsse unbedingt etwas mit ihm überprüfen, und versprach, mich anzurufen, sobald sie fertig sei.
Scheinbar unberührt erklärte ich ihr, ich würde mich auf das Abendessen freuen, dann beendeten wir das Gespräch.
So zögerte ich an der Ecke Rue des Lions und Rue Saint Paul und wusste weder was ich tun noch wo ich hingehen sollte.
Wie oft hatte ich geschimpft, jede Minute zählen zu müssen und mir nie Freizeit gönnen zu können. Doch als ich an diesem Nachmittag am Seine-Ufer entlanglief, hatte ich das eigenartige und unangenehme Gefühl, zwischen zwei Augenblicken des Tages gefangen zu sein, die sich einfach nicht zusammenfügen wollten. Ich hätte Keira gerne eine SMS geschickt, doch ich untersagte es mir. Walter hätte mir sicher dringend davon abgeraten. Ich hätte sie in der Druckerei von Max abholen wollen. Von dort aus hätten wir zusammen zu Jeanne gehen und unterwegs ein paar Blumen kaufen können. Davon träumte ich, während ich Richtung Île Saint-Louis bummelte. Doch wie leicht dieser Traum auch zu verwirklichen war, so wäre er bestimmt falsch aufgefasst worden. Keira hätte mich der Eifersucht bezichtigt, dabei ist das gar nicht meine Art, das heißt…
Ich ließ mich unter der Markise eines Bistros an der Ecke der Rue des Deux Ponts
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