Die erste Nacht - Roman
auf Holländisch. Ich nehme an, wenige Menschen in der Gegend haben einen Akzent wie Sie.«
Der Mann wandte Keira den Rücken zu und setzte seinen Weg fort. Sie ließ nicht locker und lief ihm nach.
»Sie können noch so störrisch sein, das ist mir ganz egal. Wenn es sein muss, folge ich Ihnen bis zu Ihrem Haus. Was machen Sie, wenn wir vor der Tür stehen? Vertreiben Sie mich mit dem Gewehr?«
»Das haben Ihnen wohl die Bauern von Burravoe erzählt? Glauben Sie nicht alle üblen Gerüchte, die auf der Insel kursieren. Die Leute langweilen sich und erfinden Geschichten.«
»Das Einzige, was mich interessiert, ist, was Sie mir zu sagen haben, nicht die anderen«, fuhr Keira fort.
Zum ersten Mal schien der Mann mich zur Kenntnis zu nehmen. Er ignorierte Keira und kam einen Schritt auf mich zu.
»Ist sie immer so nervig, oder bekomme ich eine Sonderbehandlung?«
Ich hätte die Dinge anders formuliert, begnügte mich aber mit einem Lächeln und bestätigte ihm, dass Keira ein entschlossenes und willensstarkes Naturell besaß.
»Und was tun Sie im Leben außer ihr nachlaufen?«
»Ich bin Astrophysiker.«
Plötzlich veränderte sich sein Blick, und seine tiefblauen Augen weiteten sich. »Ich liebe die Sterne, früher haben sie mich geleitet …«, sagte er. Thornsten sah auf seine Schuhspitzen und kickte einen Stein beiseite. »Ich nehme an, Sie lieben sie auch, wenn das Ihr Beruf ist«, fuhr er fort.
»So ist es«, antwortete ich.
»Kommen Sie mit, ich wohne am Ende des Weges. Ich biete Ihnen eine Erfrischung an, Sie erzählen mir etwas vom Himmel, und dann lassen Sie mich in Ruhe, abgemacht?«
Ein kräftiger Händedruck, und das Abkommen galt.
Auf dem Holzboden ein abgenutzter Teppich, vor dem Kamin ein alter Sessel, an der Wand ein Regal voller staubiger Bücher, ein Eisenbett mit einer Patchworkdecke, eine Lampe und ein Nachtkästchen, das war die Einrichtung des Hauptraums dieser bescheidenen Bleibe. Unser Gastgeber bot uns einen Platz am Küchentisch und schwarzen Kaffee an, dessen bitterer Geschmack seiner Farbe entsprach. Er zündete sich eine Maispapierzigarette an und musterte uns.
»Was genau suchen Sie hier?«, fragte er und blies das Streichholz aus.
»Informationen über die frühen Migrationen der Menschen, die über den hohen Norden nach Amerika gelangt sind.«
»Diese Migrationsströme sind umstritten, die Bevölkerung des amerikanischen Kontinents ist eine sehr komplexe Angelegenheit,
all das kann man in Büchern nachlesen, darum hätten Sie nicht herkommen müssen.«
»Halten Sie es für möglich«, fuhr Keira fort, »dass eine Menschengruppe den Mittelmeerraum verlassen hat und über den Pol bis zur Beringstraße und Beaufortsee gelangt ist?«
»Ganz schönes Stück!«, rief Thornton spöttisch. »Meinen Sie etwa, die haben die Strecke mit dem Flugzeug zurückgelegt?«
»Sie brauchen mich gar nicht so von oben herab zu behandeln. Ich habe Sie lediglich um eine Antwort auf meine Frage gebeten.«
»Und wann soll das Ihrer Meinung nach stattgefunden haben?«
»Zwischen vier- und fünftausend vor Christus.«
»Nie davon gehört. Warum gerade in dieser Epoche?«
»Weil es die ist, die uns interessiert.«
»Damals war das Eis noch nicht so weit geschmolzen wie heute und das Meer kleiner … wenn sie ihren Weg jeweils zu günstigen Jahreszeiten fortgesetzt haben - ja, dann wäre das möglich. Aber jetzt spielen Sie mal mit offenen Karten. Sie sagen, Sie hätten meine Arbeiten gelesen, aber ich weiß nicht, wie Sie sich die beschafft haben wollen, denn ich habe nur sehr wenig veröffentlicht, und Sie sind zu jung, um einen der seltenen Vorträge, die ich zu diesem Thema gehalten habe, gehört zu haben. Wenn Sie sich meine Aufsätze wirklich angesehen hätten, hätten Sie die Antwort auf die eben gestellte Frage schon gewusst, denn ebendiese Theorie habe ich vertreten. Sie hat zu meinem Ausschluss aus der Archäologengesellschaft geführt. Jetzt möchte ich Ihnen ein paar Fragen stellen. Was wollen Sie wirklich von mir wissen und zu welchem Zweck?«
Keira trank ihren Kaffee in einem Zug aus.
»Gut, spielen wir mit offenen Karten. Ich habe keines Ihrer Werke gelesen, und bis letzte Woche wusste ich nicht einmal, dass sie existieren. Ein befreundeter Professor hat mir empfohlen, mich an Sie zu wenden, weil er meinte, Sie könnten mir Auskunft zu den großen Migrationen geben, die unter unseren Kollegen umstritten sind. Aber ich habe mich immer für das interessiert, was die anderen
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