Die erste Nacht - Roman
gehörte alles ins Reich des Möglichen. Ich riet Walter dennoch, äußerst feinfühlig vorzugehen. Nachdem er sich mit Ratschlägen meinerseits hatte überschütten lassen, gestand er mir fast etwas kleinlaut, er habe Elena bereits gefragt und sie habe ihm anvertraut, dass sie seit Langem von einer Reise nach London träume. Ihr Besuch sei für Ende des Monats geplant.
»Aber warum dann dieses Gespräch, wo Sie ihre Antwort doch schon kennen?«
»Weil ich sichergehen wollte, dass Sie es mir nicht übel nehmen würden. Sie sind der einzige Mann in der Familie, deshalb ist es normal, dass ich Sie um die Erlaubnis bitte, Umgang mit Ihrer Tante zu pflegen.«
»Ich habe nicht den Eindruck, dass Sie mich wirklich um Erlaubnis gebeten haben. Andernfalls müsste es mir entgangen sein.«
»Sagen wir, ich habe Sie ausgehorcht. Als ich von Ihnen wissen wollte, ob ich Chancen bei ihr hätte … Wenn ich die geringste Feindseligkeit aus Ihrer Antwort herausgehört hätte …«
»… hätten Sie auf Ihren Plan verzichtet?«
»Nein«, gestand Walter, »ich hätte Elena gebeten, Sie zu überzeugen, mir nicht böse sein zu dürfen. Adrian, noch vor einigen Monaten kannten wir uns kaum, inzwischen fühle ich mich Ihnen sehr verbunden, und ich möchte nicht das Risiko eingehen, Sie zu kränken. Unsere Freundschaft ist mir sehr wichtig.«
»Walter«, sagte ich und sah ihm dabei in die Augen.
»Was? Denken Sie, meine Beziehung zu Ihrer Tante ist unschicklich, ist es das?«
»Ganz im Gegenteil, ich finde es wunderbar, dass meine Tante an Ihrer Seite endlich das Glück findet, auf das sie so lange gewartet hat. Sie hatten recht auf Hydra: Wenn Sie zwanzig Jahre älter als meine Tante wären, hätte niemand etwas daran auszusetzen. Hören wir auf, uns mit diesen kleinkarierten und provinzlerischen Vorurteilen herumzuschlagen.«
»Das hat nichts mit der Provinz zu tun. Ich fürchte, in London wird das genauso schief angesehen.«
»Niemand zwingt Sie, sich unter den Fenstern der Akademie leidenschaftlich zu küssen … Obwohl mir die Vorstellung gar nicht missfällt, um ehrlich zu sein.«
»Ich habe also Ihre Zustimmung?«
»Die brauchen Sie gar nicht!«
»In gewisser Weise schon, denn Ihre Tante würde es bei Weitem vorziehen, dass Sie Ihrer Mutter von diesen Reiseplänen erzählen - aber nur wenn Sie einverstanden sind, das hat sie ganz klar dazu gesagt.«
Mein Handy vibrierte in meiner Tasche. Meine Festnetznummer erschien auf dem Display. Keira schien ungeduldig zu werden. Sie hätte einfach nur bei uns bleiben sollen.
»Sie nehmen das Gespräch nicht an?«
»Nein, wo waren wir stehen geblieben?«
»Bei dem kleinen Gefallen, den Ihre Tante und ich uns von Ihnen erhoffen.«
»Sie wollen, dass ich meine Mutter über die Eskapaden ihrer Schwester informiere? Es fällt mir schon schwer, ihr meine eigenen zu beichten, aber ich tue mein Bestes, das bin ich Ihnen schuldig.«
Walter nahm meine beiden Hände und drückte sie herzlich.
»Danke, danke, danke«, sagte er.
Das Handy vibrierte erneut. Ich ließ es auf dem Tisch liegen, drehte mich nach der Kellnerin um und bestellte Walter einen Kaffee.
Paris
Eine kleine Lampe erleuchtete Ivorys Schreibtisch. Der Professor ordnete seine Notizen. Das Telefon klingelte. Er legte seine Brille zur Seite und hob ab.
»Ich wollte Sie informieren, dass ich den Brief der Empfängerin überreicht habe.«
»Hat sie ihn gelesen?«
»Ja, heute Morgen.«
»Und wie hat sie reagiert?«
»Es ist noch zu früh für eine Antwort …«
Ivory sprach Walter seinen Dank aus. Nachdem er aufgelegt hatte, tätigte er selbst einen Anruf.
»Ihr Brief hat sein Ziel erreicht, und ich möchte mich bei Ihnen bedanken. Haben Sie alles geschrieben, um was ich Sie gebeten hatte?«
»Ich habe jedes Ihrer Worte genau wiedergegeben und mir nur erlaubt, ein paar Zeilen hinzuzufügen.«
»Ich hatte doch darauf bestanden, dass Sie nichts verändern!«
»Warum haben Sie ihn dann nicht selbst abgeschickt oder es ihr mündlich mitgeteilt? Warum bedienen Sie sich meiner als Vermittler? Ich verstehe nicht, welches Spiel Sie da spielen.«
»Ich wünschte, es wäre nur ein Spiel. Sie vertraut Ihnen sehr viel mehr als mir, sehr viel mehr als jedem anderen. Und das sage ich nicht, um Ihnen zu schmeicheln, Max. Sie waren ihr Professor, nicht ich. Wenn ich sie in wenigen Tagen anrufe, um
die Informationen, die sie in Yell bekommt, zu bekräftigen, wird sie nur noch überzeugter sein. Heißt es nicht, zwei Meinungen
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