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Die erste Nacht - Roman

Die erste Nacht - Roman

Titel: Die erste Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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erklärte Keira und biss in eine Gemüsetasche.
    »Hoffentlich bleibt das bis morgen früh so.«
    Die Fahrgäste stiegen wieder ein, ich sah mich ein letztes Mal um und half ihr die hohen Stufen hinauf. Die neue Zugbegleiterin
drängte zur Eile, kurz darauf schloss sich die Tür hinter mir.
    Ich schlug Keira vor, unseren letzten Abend an Bord der Transsibirischen Eisenbahn im Speisewagen zu verbringen. Dort würden Russen und Touristen die ganze Nacht über trinken, und je mehr Menschen wir um uns hätten, umso sicherer wären wir. Keira nahm meinen Vorschlag erleichtert auf. Wir fanden einen Tisch, den wir mit vier Holländern teilten.
    »Wie sollen wir in Irkutsk unseren Mann finden? Der Baikalsee ist über sechshundert Kilometer lang.«
    »Sobald wir dort sind, suchen wir ein Internetcafé und recherchieren. Vielleicht haben wir Glück und treiben ihn auf.«
    »Kannst du denn Recherchen auf Kyrillisch machen?«
    Ich sah Keira an - ihr spöttisches Lächeln war wieder einmal bezaubernd. Sie hatte recht, wir würden wohl einen Dolmetscher brauchen.
    »In Irkutsk«, sagte sie mit ironischem Unterton, »gehen wir besser zu einem Schamanen. Bei ihm erfahren wir mehr über die Gegend und ihre Bewohner als mit allen Suchmaschinen deines albernen Internets.«
    Während des Abendessens erklärte mir Keira, warum der Baikalsee zur Hochburg der Paläontologie geworden war. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts hatte man hier Reste von paläolithischen Siedlungen entdeckt, die bewiesen, dass sich fünfundzwanzigtausend Jahre vor unserer Zeitrechnung in Sibirien Transbaikalier niedergelassen hatten. Sie verfügten bereits über Kalender und hatten religiöse Riten.
    »Asien ist die Wiege des Schamanismus. In diesen Regionen«, fuhr Keira fort, »wird er als ursprüngliche Religion der Menschen angesehen. Der Mythologie zufolge ist er mit der Schöpfung der Welt entstanden, und der erste Schamane war der Sohn des Himmels. Siehst du, unsere Berufe sind seit jeher
miteinander verbunden. Es gibt viele kosmogonische Mythen in Sibirien. In einer Nekropole auf der Rentierinsel wurde eine Knochenskulptur aus dem fünften Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung gefunden. Es handelt sich um eine schamanische Kappe, die mit einem Elchkopf geschmückt ist. Sie wurde von einem Schamanen getragen, der begleitet von zwei Frauen in den Himmel auffuhr.«
    »Warum erzählst du mir das alles?«
    »Weil man hier, wie in allen anderen burjatischen Dörfern, um eine Audienz beim Schamanen bitten muss, wenn man etwas in Erfahrung bringen will. Kannst du mir jetzt verraten, warum du unter dem Tisch an mir herumfummelst?«
    »Ich fummele gar nicht!«
    »Was machst du dann?«
    »Ich suche den Reiseführer, den du bestimmt irgendwo versteckt hast. Sag mir jetzt nicht, dass du all das über die Schamanen einfach so weißt, das glaube ich dir nicht.«
    »Sei nicht albern«, sagte Keira und lachte, als ich meine Hand hinter ihren Rücken schob. »Ich habe kein Buch unter dem Hintern und auch nicht in der Bluse. Das reicht, Adrian, ich kenne mich aus gutem Grund aus.«
    »Und aus welchem?«
    »Als ich noch studiert habe, hatte ich eine mystische Phase und war sehr am … Schamanismus interessiert. Räucherstäbchen, magnetische Steine, Tänze, Ekstase, Trance, meine New-Age-Periode, wenn du verstehst, was ich meine, und lach jetzt bloß nicht.«
    »Und wie sollen wir den Schamanen finden?«, fragte ich, während ich mich erhob.
    »Das erstbeste Kind auf der Straße kann dir sagen, wo er wohnt, das kannst du mir glauben. Mit zwanzig hätte ich diese Reise leidenschaftlich gerne gemacht. Für manche war
Katmandu das Paradies, ich träumte davon hierherzukommen.«
    »Wirklich?«
    »Ja, wirklich. Und jetzt habe ich nichts dagegen, wenn du deine Leibesvisitation fortsetzt, aber dazu sollten wir in unser Abteil gehen.«
    Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Am frühen Morgen hatte ich Keiras Körper vollständig abgesucht … und keinen Deut von einem Spickzettel gefunden.

London
    Sir Ashton saß am Esszimmertisch, las die Morgenzeitung und trank Tee. Sein Privatsekretär trat ein und reichte ihm sein Handy auf einem silbernen Tablett. Ashton nahm es, hörte, was der Anrufer ihm zu sagen hatte, und legte es zurück auf das Tablett. Der Sekretär hätte sich jetzt eigentlich zurückziehen müssen, doch er schien noch etwas hinzufügen zu wollen und wartete, dass Sir Ashton sich an ihn wandte.
    »Was gibt es noch? Kann ich jetzt vielleicht in Ruhe

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