Die erste Nacht - Roman
schenkte ihn dem Kleinen. Er wickelte ihn um den Hals und lief davon. An der Straßenecke drehte er sich noch einmal um und winkte uns zum Abschied mit dem Tuch zu. Ich wusste, wie schwer Keira in diesem Moment ums Herz war, wie sehr ihr Harry fehlte. Ich ahnte auch, dass sie in den Augen aller Kinder, denen wir begegneten, die seinen sah. Ich nahm sie in die Arme, meine Geste war sicher ungeschickt, doch sie legte den Kopf an meine Schulter. Ich spürte ihre Traurigkeit und flüsterte ihr zur Erinnerung das Versprechen ins Ohr, das ich ihr gegeben hatte. Wir würden ins Omo-Tal zurückkehren, und, egal wann, sie würde Harry wiedersehen.
Der Kleinbus fuhr durch eine Steppenlandschaft am Fluss entlang. Am Straßenrand liefen Frauen, die ihre schlafenden Kinder auf dem Arm trugen. Unterwegs erklärte mir Keira etwas mehr über die Schamanen.
»Der Schamane ist ein Heiler, ein Hexer, ein Priester, ein Zauberer, ein göttliches Wesen und ein Besessener. Seine Aufgabe ist es, bestimmte Krankheiten zu heilen, das Wild oder den Regen anzulocken, manchmal auch verlorene Gegenstände wiederzufinden.«
»Sag mal, könnte uns dein Schamane nicht direkt zu unserem Fragment führen? Dann brauchen wir gar nicht erst zu diesem Egorov und würden Zeit gewinnen.«
»Ich gehe allein zu ihm!«
Es handelte sich um ein heikles Thema, und Scherze waren nicht angebracht. Ich lauschte also aufmerksam ihren Ausführungen.
»Um Kontakt zu den Geistern aufzunehmen, versetzt sich der Schamane in Trance. Seine Zuckungen zeugen davon, dass ein Geist in seinen Körper gefahren ist. Ist die Trance vorbei, verfällt er in einen Zustand der Katalepsie, das heißt eine Art Totenstarre. Das ist für die Anwesenden ein faszinierender Augenblick, da man nie genau weiß, ob der Schamane ins Leben zurückkehrt. Wenn er wieder zu sich kommt, erzählt er von seiner Reise. Eine klassische Form dürfte dir gefallen, nämlich wenn der Schamane sich in den Kosmos versetzt. Man bezeichnet das als den magischen Flug. Himmlischer Ausgangspunkt, der die drei Welten verbindenden Achse ist meist der Polarstern.«
»Weißt du, eigentlich brauchen wir nur eine Adresse, vielleicht reicht es, wenn wir ihn um begrenzte Dienste bitten.«
Keira wandte den Kopf zum Fenster und sprach kein Wort mehr mit mir.
Listwjanka …
… ist wie viele sibirische Orte ganz aus Holz gebaut, selbst die orthodoxe Kirche ist aus Birkenstämmen gezimmert. Auch das Haus des Schamanen machte keine Ausnahme von dieser Regel. Wir waren nicht die Einzigen, die ihn an diesem Tag aufsuchten. Ich hatte gehofft, wir würden nur ein paar Worte mit ihm wechseln müssen, so wie man beim Bürgermeister eines kleinen Dorfs Erkundigungen über eine Familie aus der Gegend einholt, deren Spur man verloren hat. Doch wir mussten zunächst der Zeremonie beiwohnen, die gerade begonnen hatte.
Zusammen mit etwa fünfzig anderen Menschen setzten wir uns im Kreis auf einen Teppich. In ein rituelles Gewand gekleidet, trat der Schamane ein. Die Versammlung verhielt sich völlig ruhig. Eine junge Frau von kaum zwanzig Jahren lag auf einer Matte ausgestreckt. Sie litt ganz offensichtlich unter einer Krankheit, die mit starkem Fieber einherging. Schweiß rann ihr über die Stirn, und sie stöhnte. Der Schamane griff zu einer Trommel. Keira, die noch immer nicht ganz mit mir versöhnt war, erklärte - ohne dass ich sie irgendetwas gefragt hätte -, dieses Utensil sei bei einem solchen Ritual unverzichtbar, die Trommel habe darüber hinaus eine doppelte sexuelle Identität, das Fell sei männlich, der Rahmen weiblich. Ich war so dumm zu lachen und bekam sogleich eine Kopfnuss verpasst.
Zunächst erwärmte der Schamane das Fell, indem er mit der Flamme einer Fackel darüberstrich.
»Du musst zugeben, das hier ist doch etwas komplizierter, als die Auskunft anzurufen«, flüsterte ich Keira zu.
Der Schamane hob die Hände, und sein Körper begann sich im Rhythmus der Trommelschläge zu wiegen. Sein Gesang war betörend, und Keira war ganz fasziniert von der Szene, die sich vor unseren Augen abspielte. Der Schamane verfiel in Trance, und sein Körper wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt. Im Laufe der Zeremonie veränderte sich das Gesicht der jungen Frau, das Fieber schien zu fallen, und ihre Wangen nahmen wieder Farbe an. Keira war ebenso gebannt wie ich. Die Trommelschläge hörten auf, und der Schamane sank zu Boden. Niemand sagte etwas, kein Laut durchbrach die Stille. Für eine lange Weile waren
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