Die erste Nacht - Roman
alle Blicke auf den reglosen Körper geheftet. Nachdem der Mann wieder zu sich gekommen war und sich erhoben hatte, beugte er sich über die junge Frau, legte ihr die Hände aufs Gesicht und sagte ihr, sie solle aufstehen. Auch wenn sie noch ein wenig schwankte, schien sie doch von der Krankheit geheilt, die sie niedergestreckt hatte. Die Versammlung applaudierte, die Magie hatte gewirkt.
Ich habe nie herausgefunden, über welche Kräfte dieser Mann tatsächlich verfügte, und das, was ich an diesem Tag in seinem Haus in Listwjanka erlebt habe, wird mir immer ein Rätsel bleiben.
Nachdem die Sitzung beendet war und die Leute nach und nach gingen, bat Keira den Schamanen um eine Unterredung. Er forderte sie auf, sich zu setzen und ihm die Fragen zu stellen, deretwegen sie gekommen war. Er erklärte uns, dass der Mann, den wir suchten, in der Gegend hohes Ansehen genoss. Er war ein Wohltäter, der viel Geld für die Armen und für den Bau von Schulen spendete. Er hatte sogar die Renovierung der Sanitätsstation bezahlt, die seither wie ein kleines Krankenhaus funktionierte. Der Schamane zögerte, uns seine
Adresse preiszugeben, da er nicht wusste, was wir von ihm wollten. Keira versicherte, es ginge uns nur um ein paar Informationen. Sie erklärte, welchen Beruf sie ausübte und warum Egorov uns helfen könnte. Ihr Anliegen war rein wissenschaftlicher Natur.
Der Schamane starrte auf Keiras Anhänger und fragte nach seiner Herkunft.
»Es ist ein sehr altes Stück«, vertraute sie ihm ohne Vorbehalte an. »Es handelt sich um ein Fragment einer Himmelskarte, deren fehlende Teile wir suchen.«
»Wie alt ist es?«, fragte der Schamane, der sich den Anhänger näher ansehen wollte.
»Millionen von Jahre«, antwortete Keira und reichte ihm die Kette.
Nachdem er ganz vorsichtig darübergestrichen hatte, verschloss sich seine Miene.
»Sie dürfen Ihre Reise nicht fortsetzen«, sagte er ernst.
Keira wandte sich zu mir um. Was mochte diesen Mann plötzlich beunruhigen?
»Behalten Sie ihn nicht bei sich, Sie wissen nicht, was Sie tun«, fuhr er fort.
»Haben Sie schon einmal etwas Ähnliches gesehen?«, fragte Keira.
»Sie verstehen nicht, was das bedeutet«, sagte der Schamane.
Sein Blick hatte sich noch mehr verfinstert.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, gab Keira zurück und nahm den Anhänger wieder an sich, »wir sind Forscher …«
»Unwissende! Haben Sie die geringste Ahnung, wie die Welt funktioniert? Wollen Sie das Risiko eingehen, ihr Gleichgewicht zu stören?«
»Aber wovon reden Sie?«, fragte Keira verwundert.
»Gehen Sie weg von hier! Der Mann, den Sie suchen, wohnt
zwei Kilometer entfernt in einer rosafarbenen Datscha mit drei kleinen Türmchen, Sie können sie nicht verfehlen.«
Ein paar Jugendliche liefen auf dem Baikalsee Schlittschuh. Ein alter Frachtkahn mit rostigem Rumpf lag gefangen im Eis auf der Seite. Keira schob die Hände tiefer in die Manteltaschen.
»Was wollte uns dieser Mann sagen?«, fragte sie.
»Keine Ahnung. Du bist die Expertin für Schamanismus. Ich denke, die Wissenschaft ängstigt ihn, das ist alles.«
»Seine Angst schien mir aber nicht irrational, offenbar wusste er, wovon er sprach … So als wollte er uns vor einer Gefahr warnen.«
»Wir sind keine Zauberlehrlinge, Keira. In unseren Berufen ist kein Platz für Magie oder Esoterik. Wir folgen dem rein wissenschaftlichen Weg. Wir besitzen zwei Fragmente einer Karte und suchen die anderen, sonst nichts.«
»Einer Karte, die nach deiner Aussage vor vierhundert Millionen Jahren geschaffen wurde und von der wir nicht wissen, was sie enthüllen würde, wenn sie komplett wäre …«
»Sobald wir alle Teile beisammenhaben, können wir auf wissenschaftliche Art nachweisen, dass es eine frühe Zivilisation gab, die über enormes astronomisches Wissen verfügte, und zwar zu einer Zeit, da nach heutigem Wissensstand noch gar keine vernunftbegabten Wesen auf der Erde lebten. Eine solche Entdeckung würde alle bisherigen Theorien zur Geschichte der Menschheit auf den Kopf stellen. Ist es nicht genau das, was dich seit jeher fasziniert?«
»Und was erhoffst du dir davon?«
»Wenn mir diese Karte einen Stern zeigen würde, der bislang unbekannt war, wäre ich schon überglücklich. Warum ziehst du so ein Gesicht?«
»Ich habe Angst, Adrian. Noch nie hat mich meine Forschungsarbeit mit der Gewalttätigkeit der Menschen konfrontiert, und ich verstehe die Motivation unserer Verfolger nicht. Dieser Schamane wusste nichts
Weitere Kostenlose Bücher