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Die erste Nacht - Roman

Die erste Nacht - Roman

Titel: Die erste Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Levy
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frühstücken?«
    »Der Sicherheitsverantwortliche möchte Sie so schnell wie möglich sprechen, Sir.«
    »Dann soll er heute Nachmittag kommen.«
    »Er wartet auf dem Gang, Sir, es scheint dringend.«
    »Der Sicherheitsverantwortliche steht um neun Uhr morgens vor meiner Tür? Was soll denn das?«
    »Ich denke, das möchte er Ihnen selbst erklären. Er hat mir nichts sagen wollen, außer, dass er Sie sofort sprechen muss.«
    »Dann führen Sie ihn herein, statt rumzureden, das geht mir auf die Nerven. Und lassen Sie heißen Tee bringen anstelle dieser lauwarmen Brühe, die man mir vorgesetzt hat. Los, beeilen Sie sich, wenn es so dringend ist!«
    Der Sekretär zog sich zurück und ließ den Mann eintreten.
    »Was wollen Sie von mir?«
    Der Mann reichte Sir Ashton einen verschlossenen Umschlag. Dieser öffnete ihn und entdeckte eine Reihe von Fotos.
Er erkannte Ivory, der auf der Bank in dem kleinen Park gegenüber seinem Haus saß.
    »Was macht dieser Idiot dort?«, fragte Ashton und trat ans Fenster.
    »Die sind gestern am späten Vormittag aufgenommen worden, Sir.«
    Ashton ließ die Gardine zurückfallen und wandte sich an den Sicherheitschef.
    »Wenn es diesem alten Irren Spaß macht, die Tauben gegenüber von meinem Haus zu füttern, dann ist das sein Problem. Ich hoffe, Sie haben mich nicht aus derart nichtigem Anlass zu dieser frühen Stunde gestört.«
    »Grundsätzlich ist die Operation in Russland wie gewünscht verlaufen.«
    »Warum haben Sie nicht mit dieser guten Neuigkeit angefangen? Wollen Sie eine Tasse Tee?«
    »Nein danke, Sir, ich muss gehen, ich habe viel zu tun.«
    »Warten Sie mal, warum ›grundsätzlich‹?«
    »Unser Mann hat den Zug früher als geplant verlassen müssen. Aber er ist sicher, die beiden Ziele tödlich getroffen zu haben.«
    »Na gut, Sie können gehen.«

Irkutsk
    Wir waren froh, die Transsibirische Eisenbahn zu verlassen. Die letzte Nacht einmal ausgenommen, sollten wir diese Reise nicht in guter Erinnerung behalten. Als wir durch die Bahnhofshalle liefen, sah ich mich aufmerksam um, ohne jedoch etwas Verdächtiges auszumachen. Keira entdeckte einen Jungen, der Zigaretten verkaufte. Sie bot ihm zehn Dollar, wenn er uns einen kleinen Dienst erweisen würde, er sollte uns zum Schamanen bringen. Der Junge verstand kein Wort von dem, was Keira ihm erzählte, führte uns aber zu seinem Elternhaus. Sein Vater besaß eine Gerberei in der Altstadt.
    Ich war beeindruckt von der ethnischen Vielfalt, die hier herrschte. Die verschiedensten Völker lebten friedlich beieinander. Irkutsk, die Stadt mit der besonderen Vergangenheit, mit ihren windschiefen Holzhäusern, die durch fehlende Instandhaltung langsam zerfallen. Irkutsk und seine alte Straßenbahn ohne feste Stationen, die mitten auf der Strecke hält, Irkutsk und seine alten Burjatinnen mit dem obligaten unter dem Kinn geknoteten Wolltuch und der Einkaufstasche am Arm … Hier hat jedes Tal und jeder Berg seinen eigenen Geist, man verehrt den Himmel, und bevor man Alkohol trinkt, gießt man ein paar Tropfen auf den Tisch, um mit den Göttern anzustoßen.
    Der Gerber empfing uns in seiner bescheidenen Bleibe. In gebrochenem Englisch erklärte er uns, seine Familie lebe seit dreihundert Jahren hier. Damals, als die Burjaten noch in den
großen Handelskontoren der Stadt Felle verkauften, war sein Großvater Pelzhändler gewesen, doch das gehörte einer weit zurückliegenden Vergangenheit an. Zobel, Hermeline, Otter und Füchse waren längst verschwunden, und heute stellte er in der kleinen Werkstatt in der Nähe der Paraskewa-Kapelle Schulranzen her, die er mühsam auf dem benachbarten Basar verkaufte. Keira fragte ihn, wie wir es anstellen könnten, von einem Schamanen empfangen zu werden. Seiner Ansicht nach war der beste in Listwjanka am Baikalsee. Wir könnten günstig mit einem Minibus dorthin gelangen, die Taxis wären kaum bequemer und viel zu teuer. Er lud uns zum Essen ein. Oft gilt in solch ärmlichen Regionen nur ein Gesetz: das der Gastfreundschaft. Es gab mageres gekochtes Fleisch mit Kartoffeln, Buttertee und Brot. Dieses Mittagessen, das wir mitten im Winter im Haus eines Gerbers zu uns nahmen, wird mir unvergessen bleiben.
    Keira hatte sich mit dem Jungen angefreundet, beide wiederholten ihnen unbekannte Worte auf Englisch oder Russisch und lachten. Am frühen Nachmittag führte uns der Junge zur Bushaltestelle. Keira wollte ihm die versprochenen Dollars geben, doch er lehnte ab. Also nahm sie ihren Schal ab und

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