Die erste Nacht - Roman
über uns, aber seine Reaktion, als er meinen Anhänger berührt hat, war … erschreckend.«
»Aber ist dir denn nicht klar, was du ihm enthüllt hast und was das für ihn bedeutet? Dieser Mann ist ein Orakel, seine Macht und seine Aura beruhen auf seinem Wissen und der Unwissenheit derer, die ihn verehren. Dann kreuzen wir bei ihm auf und halten ihm den Beweis für Kenntnisse unter die Nase, die die seinen bei Weitem übersteigen. Du bist eine Gefahr für ihn. Ich würde von den Mitgliedern der Akademie keine andere Reaktion erwarten, würden wir ihnen die Sache unterbreiten. Wenn ein Arzt in ein entlegenes Dorf, fernab aller Modernität, käme und mit seinen Medikamenten einen Kranken heilen würde, so wäre er für die Bewohner ein Hexer mit unendlicher Macht. Der Mensch verehrt den, der mehr weiß als er selbst.«
»Danke für die Lektion, Adrian, aber was mir Angst macht, ist unsere Unwissenheit, nicht die der Dorfbewohner.«
Wir erreichten die rosafarbene Datscha, die genau der Beschreibung des Schamanen entsprach. Die Architektur war auffällig und in der Tat unverwechselbar. Wer dort lebte, hatte nicht versucht, seinen Reichtum zu verbergen, sondern stellte ihn als Beweis seiner Macht und seines Erfolgs deutlich zur Schau.
Zwei Hünen mit umgehängter Kalaschnikow bewachten den Eingang des Anwesens. Ich stellte mich vor und bat, vom Hausherrn empfangen zu werden. Ich berief mich auf Thornsten, einen alten Freund von ihm, der uns beauftragt hatte, eine Schuld zu begleichen. Der Wachmann befahl uns, vor der Tür zu warten. Keira hüpfte auf der Stelle, um sich aufzuwärmen,
und der zweite Zerberus sah ihr dabei belustigt und für meinen Geschmack fast begehrlich zu. Ich nahm sie in die Arme und rieb ihren Rücken. Kurz darauf kam der Mann zurück, und nachdem uns die beiden Wachhunde nach allen Regeln der Kunst durchsucht hatten, durften wir in Egorovs prächtiges Haus eintreten.
Die Böden seien aus Carraramarmor, die Wände mit edlem Holz getäfelt, das er aus England importiert habe, erklärte uns der Hausherr, der uns im Salon empfing. Die Teppiche, äußerst wertvolle Stücke, kämen aus dem Iran.
»Ich dachte, dieser Hund von Thornsten wäre schon lange tot«, rief Egorov aus und schenkte uns Wodka ein. »Trinken Sie, das wärmt!«
»Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen«, erwiderte Keira, »aber es geht ihm ausgezeichnet.«
»Umso besser für ihn! Sie sind also gekommen, um mir das Geld zu geben, das er mir schuldet?«
Ich zog mein Portemonnaie heraus und zeigte Egorov eine Hundertdollarnote.
»Hier«, sagte ich und legte den Schein auf den Tisch.
Egorov betrachtete ihn verächtlich.
»Ich hoffe, das soll ein Scherz sein!«
»Das ist genau die Summe, die wir Ihnen geben sollen.«
»Das schuldete er mir vor dreißig Jahren! Auf heutige Verhältnisse umgerechnet, müsste man sie mit hundert multiplizieren - von Zins und Zinseszins ganz zu schweigen. Ich gebe Ihnen zwei Minuten, um von hier zu verschwinden, sonst werden Sie Ihren üblen Scherz bereuen.«
»Thornsten hat uns gesagt, Sie könnten uns helfen. Ich bin Archäologin und brauche Ihre Unterstützung.«
»Tut mir leid, ich kümmere mich schon lange nicht mehr um Antiquitäten, Rohstoffe sind wesentlich lukrativer. Wenn
Sie die Reise in der Hoffnung unternommen haben, etwas von mir zu kaufen, sind Sie vergeblich gekommen. Thornsten hat Sie ebenso an der Nase herumgeführt wie mich. Nehmen Sie den Geldschein und gehen Sie.«
»Ich verstehe Ihre Animosität ihm gegenüber nicht. Er selbst hat sehr respektvoll von Ihnen gesprochen und scheint Ihnen sogar eine gewisse Bewunderung zu zollen.«
»Ach ja?«, fragte Egorov offensichtlich geschmeichelt.
»Warum schuldet er Ihnen Geld? Hundert Dollar, das war vor dreißig Jahren in dieser Gegend ein ganz erkleckliches Sümmchen.«
»Thornsten war nur ein Mittelsmann, er arbeitete für einen Käufer in Paris. Einen Mann, der eine alte Handschrift kaufen wollte.«
»Welche Art Handschrift?«
»Ein gravierter Stein, der in einem eingefrorenen Grab in Sibirien gefunden wurde. Sie wissen sicher ebenso gut wie ich, dass in den Fünfzigerjahren viele solcher Gräber entdeckt wurden, die voller im Eis gut erhaltener Schätze waren.«
»Und alle geplündert wurden.«
»Leider ja«, erwiderte Egorov und seufzte. »Die Habgier der Menschen ist furchtbar, nicht wahr? Sobald es um Geld geht, gibt es keinen Respekt mehr für die Schönheiten der Vergangenheit.«
»Und Sie haben sich natürlich
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