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Die erste Todsuende

Die erste Todsuende

Titel: Die erste Todsuende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lawrence Sanders
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Freude geworden war, und hörte Gott sagen: „Okay, Bernie - was genug ist, ist genug!"

FÜNFTER TEIL

23
    Dreimal in der Woche brachte ein Bote Captain Delaney die Kopien der jüngsten Ermittlungen im Fall Lombard ins Haus. Delaney fiel auf, daß die Berichte immer weniger und immer kürzer wurden. Pauley ließ bereits Überprüftes ein weiteres Mal überprüfen, doch das Ergebnis war gleich Null: kein Ansatzpunkt, kein einleuchtendes Motiv. Pauley hatte in einer vertraulichen Aktennotiz an den Stellvertretenden Commissioner Broughton sogar auf eine Möglichkeit hingewiesen, an die auch Delaney schon gedacht hatte: daß Lombard von einem Polizeibeamten umgelegt worden sein könnte aus Ärger über dessen ständige öffentliche Angriffe auf die „Tüchtigkeit" der Polizei. Allerdings glaubte Pauley nicht daran.
    Captain Delaney ebenfalls nicht. Ein Polizeibeamter hätte ihn vermutlich mit einer Pistole niedergeschossen. Doch die meisten Berufspolizisten - sie alle hatten Bürgermeister, Commissioner und Politiker aller Schattierungen kommen und gehen sehen -pflegen eine Kritik wie die Lombards mit einem Achselzucken abzutun, die in ihren Augen nichts weiter als einen billigen Publicity-Trick darstellte, und sich dann wieder ihrer Arbeit zuzuwenden.
    Je mehr Delaney über den Mord nachdachte, je mehr Berichte er las, desto fester war er davon überzeugt, daß es sich um ein Verbrechen ohne Motiv handelte. Natürlich nicht ohne Motiv für den Mörder, wohl aber für jeden vernünftig denkenden Menschen. Lombard war einem Zufall zum Opfer gefallen.
    Delaney versuchte, seine Zeit auszufüllen. Zweimal jeden Tag ging er ins Krankenhaus, einmal mittags und einmal am frühen Abend. Er fragte auf eigene Faust ein paar Leute aus, suchte Frank Lombards Kompagnon in der Rechtsanwaltsfirma auf, seine Mutter und etliche von seinen politischen Freunden. Aber es war reine Zeitverschwendung; er fand nichts heraus, das ihn weitergebracht hätte.
    Verzweifelt über seinen Mißerfolg nahm er eines Abends einen gelben, linierten Notizblock zur Hand und schrieb oben auf die Seite: „Der Tatverdächtige." Dann zog er in der Mitte einen Längsstrich. Über die linke Spalte schrieb er: „Körperliche Merkmale", über die rechte: „Psychische Merkmale". Er nahm sich vor, alles aufzuschreiben, was er über den Täter wußte oder mutmaßte.
    Unter „Körperliche Merkmale" notierte er:
    „Vermutlich ein Mann. Weiß."
    „Groß, wahrscheinlich über 1,80 m."
    „Kräftig und jung. Unter 35?"
    „Von durchschnittlichem oder gutem Aussehen. Möglicherweise gut gekleidet."
    „Äußerst wendig, ausgezeichnete Muskelkoordination. Sportler?"
    Unter „Psychische Merkmale" notierte er:
    „Kalt, entschlossen."
    „Von unbekanntem Motiv getrieben."

    „Psychopath? Typ wie Unruh?"
    Weiter unten auf der Seite machte er eine neue Überschrift: „Zusätzliches", und darunter notierte er:
    „Jemand drittes hinein verwickelt? Dient der gestohlene Führerschein als 'Tatbeweis'?"
    „Wohnhaft im 251. Revier?"
    Dann las er die Liste noch einmal durch. Sie war, das mußte er zugeben, erschreckend mager. Aber allein, daß er niedergeschrieben hatte, was er wußte - oder vielmehr mutmaßte, denn er wußte nichts —, gab ihm ein besseres Gefühl. Alles war Nebel und Schatten. Aber er spürte, daß da etwas war. Irgend jemand war flüchtig und undeutlich zu sehen...
    Er las die Liste wieder und wieder. Jedesmal blieb er bei der Zeile: „Von unbekanntem Motiv getrieben" hängen.
    In all den Jahren, da er mit psychopathischen Mördern zu tun gehabt hatte, war er nie auf einen gestoßen oder hatte er von einem gehört, der ganz ohne Motiv gehandelt hätte. Gewiß, das Motiv mochte irrational sein, widersinnig, doch in jedem einzelnen Fall, ganz besonders dann, wenn es um einen Mehrfachmörder gegangen war, hatte der Täter ein „Motiv" gehabt.

    Wie verrückt ein Mörder auch war, er hatte seine Gründe: die Kränkungen durch die Gesellschaft, die Einflüsterungen Gottes, die Forderungen der politischen Überzeugung, das Feuer des Ego,
    die Verachtung der Frauen, die Schrecken der Einsamkeit... was auch immer. Aber er hatte seine Gründe. Nirgends, das war Delaneys Erfahrung, gab es einen Mörder ohne Motiv, den grundbösen Menschen, der einfach nur gleichmütig zuschlug, so wie jemand sich eine Zigarette anzündete oder in der Nase bohrte.
    Während er in seinem langsam immer dunkler werdenden Arbeitszimmer saß und sich wieder und wieder in sein

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