Die erste Todsuende
gleichgültig, ob mit oder ohne Ehemann - gern auf Parties ging, aber keinen Freund hatte; niemand, nicht einmal ihre Freundinnen, kam auf die Idee, anzudeuten, daß sie ihrem Mann etwa untreu gewesen sei.
Was Delaney erfahren wollte, war, was sie über die Brieftasche wußte. Diese verdammte Brieftasche irritierte den Captain... ihre Lage neben der Leiche... der Umstand, daß man sie absichtlich aus der Gesäßtasche gezogen hatte... sie hatte aufgeklappt dagelegen... noch prall mit Geld gefüllt.
Zu Delaneys Verwunderung hatte man Mrs. Lombard nur bei einer Einvernahme eine detaillierte Aufstellung des Brieftascheninhalts gegeben. Diese Aufstellung lag jetzt in dem „Beweismaterial" beschrifteten Aktendeckel. Man hatte Clara gefragt, ob ihres Wissens etwas fehle. Sie hatte mit „Nein" geantwortet; sie glaube, alle Ausweise und Kreditkarten ihres Mannes seien vorhanden, und was das Geld betreffe - über zweihundert Dollar -, so sei das etwa die Summe, die er stets bei sich getragen habe.
Delaney mißtraute ihrer Aussage. Wie viele Ehefrauen konnten schon genau sagen, was ihre Männer in der Brieftasche mit sich herumtrugen? Wie viele Ehemänner konnten umgekehrt genau angeben, was die Handtaschen ihrer Frauen enthielten? Und wie viele Männer konnten darüber hinaus genau sagen, wieviel Geld sie bei sich trugen? Um die Probe aufs Exempel zu machen, überlegte Delaney einen Moment und schätzte, daß er sechsundfünfzig Dollar bei sich tragen müsse. Er zählte nach - es waren nur zweiundvierzig. Er fragte sich, wo sein Geld wohl bliebe.
Der einzige weitere Bericht, der ihn interessierte, betraf die Vernehmung der trauernden Mutter des Opfers. Delaney las ihn nochmals durch. Wie er vermutet hatte, wohnte Mrs. Sophia Lombard in einem umgebauten Reihenhaus zwischen dem East River und der Stelle, wo man die Leiche Ihres Sohnes gefunden hatte.
Mrs. Lombard war besonders über die Besuche ihres Sohnes befragt worden - und zwar sehr geschickt, das mußte Delaney zugeben; das war unverkennbar Pauleys Verdienst. Ob er sie jede Woche besucht habe? Ob immer am gleichen Abend? Mit anderen Worten, ob es sich um eine feststehende Gewohnheit gehandelt habe? Ob er sie vorher immer angerufen habe? Wie er von Brooklyn herübergekommen sei?
Die Antworten fielen enttäuschend aus und warfen neue Fragen auf. Frank Lombard hatte seine Mutter nicht regelmäßg besucht und bei ihr zu Abend gegessen. Er war immer dann gekommen, wenn er es gerade einrichten konnte. Manchmal vergingen vierzehn Tage, bisweilen sogar ein ganzer Monat, ehe er es schaffte. Aber er sei ein guter Junge gewesen, versicherte Mrs. Sophia Lombard; er habe jeden Tag angerufen. Wenn er zum Abendessen kommen konnte, pflegte er vor zwölf anzurufen, damit sie noch auf den Märkten entlang der Ist Avenue die Dinge einkaufen konnte, die er besonders gern aß.
Lombard kam nicht mit seinem Wagen von Brooklyn herüber, weil es in der Nähe der Wohnung seiner Mutter keinen Parkplatz gab. Er pflegte mit der Untergrundbahn zu fahren und von der Station aus entweder den Bus oder ein Taxi zu nehmen. Er war nachts nicht gern unterwegs und fuhr immer schon vor Mitternacht nach Brooklyn zurück.
Ob die Schwiegertochter ihren Sohn jemals zum Abendessen bei seiner Mutter begleitet habe?
„Nein", erklärte Mrs. Sophia Lombard bündig. Als Delaney diese Antwort las, mußte er lächeln, denn er ahnte die Spannungen, die in der Familie bestanden haben mußten.
Delaney legte alle Berichte zurück in die Aktendeckel und verschloß die gesamten Unterlagen der „Kommission Lombard" in einem kleinen, metallenen Aktenschrank in der Ecke seines Arbeitszimmers.
Seine Augen brannten, und seine Knochen taten weh. Es war beinahe sieben Uhr früh. Er goß den kalten Kaffee weg, ging nach oben, zog sich aus und ließ sich ins Bett fallen. Irgend etwas war da, das ihn nicht losließ, irgend etwas, das er in den Berichten gelesen hatte. Doch es passierte ihm öfter - daß er einen Hinweis ahnte, ohne ihn zu erkennen. Das beunruhigte ihn nicht weiter; er versuchte, nicht darüber nachzudenken. Aus Erfahrung wußte er, daß es ihm schon einfallen würde - wie ein Name oder eine Melodie. Er stellte den Wecker auf halb neun, schloß die Augen und war sofort eingeschlafen.
Kurz nach neun war er drüben auf dem Revier. Den Schalterdienst versah ein weiblicher Sergeant. Außer ihr gab es in New York nur noch eine Polizistin, der diese Aufgabe anvertraut worden war. Gemeinsam mit ihr sah er das
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