Die ersten und die letzten Arbeiten des Herkules
beurteilen.«
»Wahrscheinlich nicht«, gab Elsie lachend zu. »Aber ich halte sie trotzdem für Geier.«
»Die den Toten die Augen aushacken.«
»Oh, nicht doch«, rief Elsie.
»Verzeihen Sie«, bat Harold.
Mrs Rice sagte lächelnd: »Jedenfalls ist es nicht wahrscheinlich, dass sie unseren Weg kreuzen werden.«
»Wir haben keine düsteren Geheimnisse!«, sagte Elsie.
»Aber vielleicht Mr Waring«, warf Mrs Rice neckisch ein.
Harold warf lachend den Kopf zurück.
»Kein einziges in der weiten Welt«, wehrte er ab. »Mein Leben ist ein offenes Buch.«
Wie dumm doch die Leute sind, die vom geraden Weg abweichen, dachte er bei sich. Ein reines Gewissen – mehr braucht man im Leben nicht. Damit kann man der Welt die Stirn bieten und jeden zum Teufel schicken, der einem etwas dreinreden will.
Er fühlte sich plötzlich sehr vital – sehr stark – als Meister seines Schicksals.
Wie so viele Engländer besaß auch Harold Waring kein Talent für Sprachen. Sein Französisch war gebrochen und sein Akzent unverkennbar britisch. Deutsch und Italienisch konnte er überhaupt nicht.
Bis jetzt hatten ihn diese linguistischen Schwächen nicht gestört. Er hatte erfahren, dass in den meisten Hotels auf dem Kontinent jedermann Englisch sprach, wozu sich also abmühen?
Aber in diesem entlegenen Winkel, wo die Landessprache eine Art Slowenisch war und sogar der Portier daneben nur Deutsch sprach, war es ihm manchmal peinlich, dass seine beiden Damenbekanntschaften für ihn dolmetschen mussten. Mrs Rice war sehr sprachgewandt und konnte sogar etwas Slowenisch.
Harold beschloss, Deutsch zu lernen. Er nahm sich vor, einige Lehrbücher zu kaufen und jeden Morgen ein paar Stunden zu studieren.
Der Vormittag war schön, und nachdem er einige Briefe geschrieben hatte, sah Harold auf die Uhr und stellte fest, dass er vor dem Lunch noch Zeit hatte, eine Stunde spazieren zu gehen. Er ging ein Stück zum See hinunter und bog dann seitwärts in den Tannenwald ein. Er war ungefähr fünf Minuten gegangen, als er unverkennbare Laute hörte. Irgendwo in der Nähe schluchzte eine Frau herzzerbrechend.
Harold blieb einen Augenblick stehen und ging dann dem Geräusch nach. Die Frau war Elsie Clayton; sie saß auf einem gefällten Baum, das Gesicht in den Händen vergraben, ihre Schultern bebten.
Harold zögerte einen Augenblick, dann ging er auf sie zu und sagte sanft:
»Mrs Clayton – Elsie?«
Sie schrak zusammen und blickte zu ihm auf. Harold setzte sich neben sie. Mit aufrichtigem Mitgefühl forschte er:
»Kann ich etwas für Sie tun? Irgendetwas?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein – nein – Sie sind sehr gut. Aber mir kann niemand helfen.«
»Hat es mit Ihrem Mann zu tun?«, fragte Harold schüchtern.
Sie nickte. Dann trocknete sie ihre Augen, nahm ihre Puderdose heraus und versuchte ihre Selbstbeherrschung wiederzugewinnen.
»Ich wollte Mutter nicht beunruhigen«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Sie ist so außer sich, wenn sie sieht, dass ich unglücklich bin. Deshalb bin ich hierher gekommen, um mich auszuweinen. Ich weiß, es ist dumm. Weinen nützt nichts. Aber manchmal hat man das Gefühl, dass man das Leben nicht mehr ertragen kann.«
»Es tut mir so furchtbar Leid«, sagte Harold.
Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu und fuhr hastig fort:
»Es ist natürlich meine Schuld. Ich habe Philip aus freien Stücken geheiratet. Es – es ist schlecht ausgefallen, ich habe nur mich selbst zu tadeln.«
Harold sagte: »Es ist sehr tapfer von Ihnen, es so darzustellen.«
Elsie schüttelte den Kopf.
»Nein, ich bin nicht tapfer. Ganz und gar nicht. Ich bin ein schrecklicher Feigling. Das macht es mir mit Philip oft so schwer. Ich habe so schreckliche Angst vor ihm – richtige Todesangst –, wenn er seine Wutanfälle hat.«
»Sie sollten ihn verlassen«, platzte Harold heraus.
»Ich wage es nicht. Er – er würde es nicht dulden.«
»Unsinn! Was ist mit einer Scheidung?«
Sie schüttelte langsam den Kopf.
»Ich habe keine Gründe.« Sie straffte die Schultern. »Nein, ich muss durchhalten. Ich bin viel mit meiner Mutter zusammen. Philip hat nichts dagegen. Besonders, wenn wir irgendwo weit wegfahren, wie hierher.« Das Blut stieg ihr in die Wangen, als sie fortfuhr: »Wissen Sie, eine der Schwierigkeiten ist, dass er so sinnlos eifersüchtig ist. Wenn – wenn ich auch nur mit einem Mann spreche, macht er die fürchterlichsten Szenen.«
Haralds Empörung wuchs. Er hatte schon viele Frauen sich über
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