Die Erwaehlten
ihre kleine Schwester Jessica den letzten Nerv tötete, wurde Beth in ihren Träumen zum Monster, vierundzwanzig Stockwerke hoch, das sie verfolgte. Jessica wusste aber, dass dieser Traum eine tiefere Bedeutung hatte. Drüben in Chicago war die Zeit stehen geblieben, ihr Leben erstarrt, während sie darauf gewartet hatte, alle ihre Freunde und alles, was sie kannte, zu verlassen. Aber das war jetzt vorbei. Die Welt konnte sich wieder in Bewegung setzen, sobald sie das erlaubte.
Vielleicht würden sie und ihre Familie hier doch noch glücklich werden.
Und es war Freitag.
Der Wecker klingelte. Sie schlüpfte unter der Decke hervor und schwang sich aus dem Bett.
In dem Moment, als ihre Füße den Boden berührten, lief ihr ein Schauder über den Rücken. Sie stand auf ihrem Sweatshirt, das in einem unordentlichen Haufen neben ihrem Bett lag.
Es war klatschnass.
melissa
8.02 Uhr morgens
4
Als Melissa näher kam, wurde der Geschmack nach Schule in ihrem Mund faulig.
So weit weg schmeckte sie säuerlich und kalt, wie Kaffee, den man eine komplette Minute unter der Zunge gelassen hatte. Sie konnte schmecken, wie die Ängste der ersten Woche und die unausweichliche Langeweile wie fader Nebel ineinanderflossen, zusammen mit der sauren Galle verschenkter Zeit, die von den Wänden dieses Ortes triefte. Melissa wusste aber, dass sich der Geschmack ändern würde, wenn die Schule näher kam. Einen Kilometer weiter würde sie die individuellen Geschmacksnoten unterscheiden können: ein übler Cocktail aus Unlust, Abneigungen, Neid, kleinlichen Plänkeleien und Dummheit. Noch ein paar Kilometer weiter, dann wurde die Bixby High unerträglich, wie eine Kreissäge in ihrem Kopf.
Sie schnitt eine Grimasse und drehte ihre Musik lauter.
Rex stand vor dem Haus seines Vaters, groß und dürr, in seinen schwarzen Mantel gehüllt. Der Rasen unter seinen Füßen lag im Sterben, sogar die Unkrautflecken schienen gegen eine unheilvolle, unsichtbare Macht anzukämpfen. Seit dem Unfall des alten Herrn war das Haus immer mehr in Hoffnungslosigkeit versunken.
Geschah dem alten Typen recht.
Melissa hielt mit dem Auto am Straßenrand. Sie war darauf gefasst, dass ihr beim Öffnen der Tür kalte Herbstluft aus der Lücke zwischen dem braunen Gras im Vorgarten und Rex’ langem Mantel ins Auto rauschen würde. Aber die abscheuliche Sonne hatte die knappe Abkühlung vom Unwetter der vergangenen Nacht längst weggebrannt.
Der Herbst hatte gerade erst begonnen, das Schuljahr fing immer noch erst an. Noch drei Monate bis zum Winter, neun lange Monate bis zum Ende des vorletzten Schuljahres.
Rex sprang in den Wagen und machte die Tür zu, wobei er sich vorsah, dass er ihr nicht zu nahe kam. Seine finsteren Blicke wegen der lauten Musik beantwortete Melissa mit einem Seufzen und drehte etwas leiser. Menschlichen Wesen stand es eigentlich nicht zu, sich über irgendeine Form von Musik zu beklagen. Der Höllenlärm, der zu Wachzeiten ständig in ihren Köpfen ablief, war um ein Vielfaches lauter als jede Heavy-Metal-Band, chaotischer als ein Haufen abgedrehter Zehnjähriger mit Trompeten. Wenn sie sich nur hören könnten.
Rex war aber nicht so schlimm. Er war anders, auf einem eigenen Kanal, ohne das Gewirr der Daylightmeute. Seine Gedanken waren es, die sie als erste aus der grausigen Masse herausfiltern konnte, und ihn konnte sie nach wie vor besser verstehen als alle anderen.
Melissa spürte seine Erregung deutlich, seinen Hunger nach Wissen. Sie schmeckte seine Ungeduld scharf und eindringlich aus seiner gewohnten Gelassenheit heraus.
Sie beschloss, ihn warten zu lassen. „Nettes Gewitter gestern.“
„Stimmt. Ich habe eine Weile nach Blitzen Ausschau gehalten.“
„Ich auch, irgendwie. Bin aber bloß nass geworden.“
„Die Nacht wird kommen, in der wir einen kriegen, Cowgirl.“
Sie rümpfte über den Spitznamen aus Kindertagen die Nase, murmelte aber: „Klar. Wird schon.“
Damals, als sie klein waren, als es nur sie beide gab, hatten sie immer nach einem Blitz gesucht. Nach einem Strahl, der genau im richtigen Moment einschlug, und nah genug am Boden ankam, um ihn zu erreichen, bevor die Zeit um war. Einmal, vor etlichen Jahren, hatten sie eine ganze Stunde damit zugebracht, einem gezackten Balken am Horizont hinterherzuradeln. Aber sie hatten den weiten Weg nicht geschafft, nicht einmal annähernd. Sie hatten die Entfernung unterschätzt. Die Rückfahrt durch den Regen hatte natürlich viel länger gedauert, und bis sie
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