Die Erzaehlungen 1900-1906
denn im Tor stand schon die Tante, und es schien, als lächle das ganze Haus, öffne sich und fordere zum Eintritt auf, so gastlich froh und herzlich nickte sie und streckte die Hand entgegen und
empfing eins um das andere und dann jedes noch ein zweites Mal. Die Gäste
wurden in ihre Stuben begleitet und gebeten, recht bald und recht hungrig zu Tisch zu kommen.
Auf der weißen Tafel standen zwei große Blumensträuße und dufteten in die
Speisengerüche hinein. Herr Abderegg tranchierte den Braten, die Tante visier-te scharfäugig Teller und Schüsseln. Der Professor saß wohlgemut und festlich im Gehrock am Ehrenplatz, warf der Tante sanfte Blicke zu und störte den
eifrig arbeitenden Hausherrn durch zahllose Fragen und Witze. Fräulein Thus-
302
nelde half zierlich und lächelnd beim Herumbieten der Teller und kam sich zu wenig beschäftigt vor, da ihr Nachbar, der Kandidat, zwar wenig aß, aber noch weniger redete. Die Gegenwart eines altmodischen Professors und zweier junger Damen wirkte versteinernd auf ihn. Er war im Angstgefühl seiner jungen
Würde beständig auf irgendwelche Angriffe, ja Beleidigungen gefaßt, welche
er zum voraus durch eiskalte Blicke und angestrengtes Schweigen abzuwehren
bemüht war.
Berta saß neben der Tante und fühlte sich geborgen. Paul widmete sich mit
Anstrengung dem Essen, um nicht in Gespräche verwickelt zu werden, vergaß
sich darüber und ließ es sich wirklich besser schmecken als alle anderen.
Gegen das Ende der Mahlzeit hatte der Hausherr nach hitzigem Kampf mit
seinem Freund das Wort an sich gerissen und ließ es sich nicht wieder nehmen.
Der besiegte Professor fand nun erst Zeit zum Essen und holte maßvoll nach.
Herr Homburger merkte endlich, daß niemand Angriffe auf ihn plane, sah aber
nun zu spät, daß sein Schweigen unfein gewesen war, und glaubte sich von
seiner Nachbarin höhnisch betrachtet zu wissen. Er senkte deshalb den Kopf
so weit, daß eine leichte Falte unterm Kinn entstand, zog die Augenbrauen
hoch und schien Probleme im Kopf zu wälzen.
Fräulein Thusnelde begann, da der Hauslehrer versagte, ein sehr zärtliches
Geplauder mit Berta, an welchem die Tante sich beteiligte.
Paul hatte sich inzwischen vollgegessen und legte, indem er sich plötzlich
übersatt fühlte, Messer und Gabel nieder. Aufschauend erblickte er zufällig
gerade den Professor in einem komischen Augenblick: er hatte eben einen
stattlichen Bissen zwischen den Zähnen und noch nicht von der Gabel los,
als ihn gerade ein Kraftwort in der Rede Abdereggs aufzumerken nötigte. So
vergaß er für Augenblicke die Gabel zurückzuziehen und schielte großäugig
und mit offenem Munde auf seinen sprechenden Freund hinüber. Da brach
Paul, der einem plötzlichen Lachreiz nicht widerstehen konnte, in ein mühsam gedämpftes Kichern aus.
Herr Abderegg fand im Drang der Rede nur Zeit zu einem eiligen Zornblick.
Der Kandidat bezog das Lachen auf sich und biß auf die Unterlippe. Berta
lachte mitgerissen ohne weiteren Grund plötzlich auch. Sie war so froh, daß
Paul diese jungenhaftigkeit passierte. Er war also wenigstens keiner von den Tadellosen.
Was freut Sie denn so?
fragte Fräulein Thusnelde.
O, eigentlich gar nichts.
Und dich, Berta?
Auch nichts. Ich lache nur so mit.
Darf ich Ihnen noch einschenken?
fragte Herr Homburger mit gepreßtem
Ton.
Danke, nein.
303
Aber mir, bitte , sagte die Tante freundlich, ließ jedoch den Wein alsdann
ungetrunken stehen.
Man hatte abgetragen, und es wurden Kaffee, Kognak und Zigarren ge-
bracht.
Paul wurde von Fräulein Thusnelde gefragt, ob er auch rauche.
Nein , sagte er,
es schmeckt mir gar nicht.
Dann fügte er, nach einer Pause, plötzlich ehrlich hinzu:
Ich darf auch
noch nicht.
Als er das sagte, lächelte Fräulein Thusnelde ihm schelmisch zu, wobei sie
den Kopf etwas auf die Seite neigte. In diesem Augenblick erschien sie dem
Knaben charmant, und er bereute den vorher auf sie geworfenen Haß. Sie
konnte doch sehr nett sein.
Der Abend war so warm und einladend, daß man noch um elf Uhr unter
den leise flackernden Windlichtern im Garten draußen saß. Und daß die Gäste
sich von der Reise müde gefühlt hatten und eigentlich früh zu Bett hatten
gehen wollen, daran dachte jetzt niemand mehr.
Die warme Luft wogte in leichter Schwüle ungleich und träumend hin und
wider, der Himmel war ganz in der Höhe sternklar und feuchtglänzend, gegen
die Berge hin tiefschwarz und golden vom fiebernden
Weitere Kostenlose Bücher