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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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den
    Augenblick zur Fortsetzung seiner Studien keine Lust, sondern spürte ein heftiges Bedürfnis nach frischer Luft. So verließ er leise das Haus und wandelte langsam feldeinwärts.
    Überall waren schon die Bauern an der Arbeit und blickten dem ernst Da-
    hinschreitenden flüchtig und, wie es ihm zuweilen scheinen wollte, spöttisch nach. Dies tat ihm weh, und er beeilte sich, den nahen Wald zu erreichen,
    wo ihn Kühle und mildes Halblicht umflossen. Eine halbe Stunde trieb er
    sich verdrossen dort umher. Dann fühlte er eine innere Öde und begann zu
    erwägen, ob es nun wohl bald einen Kaffee geben werde. Er kehrte um und
    lief an den schon warm besonnten Feldern und unermüdlichen Bauersleuten
    vorüber wieder heimwärts.
    Unter der Haustür kam es ihm plötzlich unfein vor, so heftig und happig zum
    Frühstück zu eilen. Er wandte um, tat sich Gewalt an und beschloß, vorher
    noch gemäßigten Schrittes einen Gang durch die Parkwege zu tun, um nicht
    atemlos am Tisch zu erscheinen. Mit künstlich bequemem Schlenderschritt
    ging er durch die Platanenallee und wollte soeben gegen den Ulmenwinkel
    umwenden, als ein unvermuteter Anblick ihn erschreckte.
    Auf der letzten, durch Holundergebüsche etwas versteckten Bank lag ausge-
    streckt ein Mensch. Er lag bäuchlings und hatte das Gesicht auf die Ellbogen und Hände gelegt. Herr Homburger war im ersten Schreck geneigt, an eine
    Greueltat zu denken, doch belehrte ihn bald das feste tiefe Atmen des Dalie-
    genden, daß er vor einem Schlafenden stehe. Dieser sah abgerissen aus, und je mehr der Lehrersmann erkannte, daß er es mit einem vermutlich ganz jungen
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    und unkräftigen Bürschlein zu tun habe, desto höher stiegen der Mut und die
    Entrüstung in seiner Seele. Überlegenheit und Mannesstolz erfüllten ihn, als er nach kurzem Zögern entschlossen nähertrat und den Schläfer wachschüttelte.
    Stehen Sie auf, Kerl! Was machen Sie denn hier?
    Das Handwerksbürschlein taumelte erschrocken empor und starrte verständ-
    nislos und ängstlich in die Welt. Er sah einen Herrn im Gehrock befehlend vor sich stehen und besann sich eine Weile, was das bedeuten könne, bis ihm einfiel, daß er zu Nacht in einen offenen Garten eingetreten sei und dort genächtigt
    habe. Er hatte mit Tagesanbruch weiterwollen, nun war er verschlafen und
    wurde zur Rechenschaft gezogen.
    Können Sie nicht reden, was tun Sie hier?
    Nur geschlafen hab ich , seufzte der Angedonnerte und erhob sich voll-
    ends. Als er auf den Beinen stand, bestätigte sein schmächtiges Gliedergerüst den unfertig jugendlichen Ausdruck seines fast noch kindlichen Gesichts. Er
    konnte höchstens achtzehn Jahre alt sein.
    Kommen Sie mit mir!
    gebot der Kandidat und nahm den willenlos fol-
    genden Fremdling mit zum Hause hinüber, wo ihm gleich unter der Türe Herr
    Abderegg begegnete.
    Guten Morgen, Herr Homburger, Sie sind ja früh auf! Aber was bringen
    Sie da für merkwürdige Gesellschaft?
    Dieser Bursche hat Ihren Park als Nachtherberge benützt. Ich glaubte, Sie
    davon unterrichten zu müssen.
    Der Hausherr begriff sofort. Er schmunzelte.
    Ich danke Ihnen, lieber Herr. Offen gestanden, ich hätte kaum ein so wei-
    ches Herz bei Ihnen vermutet. Aber Sie haben recht, es ist ja klar, daß der
    arme Kerl zum mindesten einen Kaffee bekommen muß. Vielleicht sagen Sie
    drinnen dem Fräulein, sie möchte ein Frühstück für ihn herausschicken? Oder
    warten Sie, wir bringen ihn gleich in die Küche. – Kommen Sie mit, Kleiner,
    es ist schon was übrig.
    Am Kaffeetisch umgab sich der Mitbegründer einer neuen Kultur mit einer
    majestätischen Wolke von Ernst und Schweigsamkeit, was den alten Herrn
    nicht wenig freute. Es kam jedoch zu keiner Neckerei, schon weil die heute
    erwarteten Gäste alle Gedanken in Anspruch nahmen.
    Die Tante hüpfte immer wieder sorgend und lächelnd von einer Gaststube
    in die andere, die Dienstboten nahmen maßvoll an der Aufregung teil oder
    grinsten zuschauend, und gegen Mittag setzte sich der Hausherr mit Paul in
    den Wagen, um zur nahen Bahnstation zu fahren.
    Wenn es in Pauls Wesen lag, daß er die Unterbrechungen seines gewohn-
    ten, stillen Ferienlebens durch Gastbesuche fürchtete, so war es ihm ebenso
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    natürlich, die einmal Angekommenen nach seiner Weise möglichst kennenzu-
    lernen, ihr Wesen zu beobachten und sie sich irgendwie zu eigen zu machen. So betrachtete er auf der Heimfahrt im etwas überfüllten Wagen die drei Fremden mit stiller Aufmerksamkeit, zuerst den

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