Die Erzaehlungen 1900-1906
Erbauung wachte dort zwar in ihm
auf, doch mißtraute er heimlich der inneren Wahrhaftigkeit dieser Männer, die ganze Abende mit kleinlichen Versuchen einer untheologischen Bibelauslegung
verbrachten, viel verbissenen Autodidaktenstolz an den Tag legten und selten recht einig untereinander waren. Es mußte eine Quelle des Vertrauens und der Gottesfreude geben, eine Möglichkeit der Heimkehr zur Kindeseinfalt und in
Gottes Arme; aber hier war sie nicht. Diese Leute hatten doch alle, so schien ihm, irgendeinmal einen Kompromiß geschlossen und hielten in ihrem Leben
eine irgendeinmal angenommene Grenze zwischen Geistlichem und Weltlichem
inne. Ebendas hatte Kömpff selber sein Leben lang getan, und eben das hatte
ihn müde und traurig gemacht und ohne Trost gelassen.
Das Leben, das er sich dachte, müßte in allen kleinsten Regungen Gott hin-
gegeben und von herzlichem Vertrauen erleuchtet sein. Er wollte keine noch
so geringe Tätigkeit mehr verrichten, ohne dabei mit sich und mit Gott einig zu sein. Und er wußte genau, daß dies süße und heilige Gefühl ihm bei Rech-nungsbuch und Ladenkasse niemals zuteil werden könnte. In seinem Sonntags-
blättlein las er zuweilen von großen Laienpredigern und gewaltigen Erweckun-
gen in Amerika, in Schweden oder Schottland, von Versammlungen, in denen
Dutzende und Hunderte, vom Blitz der Erkenntnis getroffen, sich gelobten,
fortan ein neues Leben im Geist und in der Wahrheit zu führen. Bei solchen
Berichten, die er mit Sehnsucht verschlang, hatte Kömpff ein Gefühl, als stei-ge Gott selber zuzeiten auf die Erde herab und wandle unter den Menschen,
da oder dort, in manchen Ländern, aber niemals hier, aber niemals in seiner
Nähe.
Die Holderlies erzählt, er habe damals jämmerlich ausgesehen. Sein gutes,
ein wenig kindliches Gesicht wurde mager und scharf, die Falten tiefer und
härter. Auch ließ er, der bisher das Gesicht glatt getragen hatte, jetzt den Bart ohne Pflege stehen, einen dünnen, farblos blonden Bart, wegen dem ihn
die Buben auslachten. Nicht weniger vernachlässigte er seine Kleidung, und
ohne die zähe Fürsorge der bekümmerten Magd wäre er schnell vollends zum
Kindergespött geworden. Den ölfleckigen alten Ladenrock trug er meistens
auch bei Tisch und auch abends, wenn er auf seine langen Spaziergänge aus-
ging, von denen er oft erst gegen Mitternacht heimkam.
Nur den Laden ließ er nicht verkommen. Das war das letzte, was ihn mit
der früheren Zeit und mit dem Althergebrachten verband, und er führte seine
Bücher peinlich weiter, stand selber den ganzen Tag im Geschäft und bediente.
Freude hatte er nicht daran, obwohl die Geschäfte erfreulich gingen. Aber er mußte eine Arbeit haben, er mußte sein Gewissen und seine Kraft an eine
feste, immerwährende Pflicht binden, und wußte genau, daß mit dem Aufgeben
seiner gewohnten Tätigkeit ihm die letzte Stütze entgleiten und er rettungslos den Mächten verfallen würde, die er nicht weniger fürchtete als verehrte.
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In kleinen Städtlein gibt es immer irgendeinen Bettler und Tunichtgut, einen alten Säufer oder entlassenen Zuchthäusler, der jedermann zum Spott und
Ärgernis dient und als Entgelt für die spärliche Wohltätigkeit der Stadt den Kinderschreck und verachteten Auswürfling abgeben muß. Als solcher diente
zu jenen Zeiten ein Alois Beckeler, genannt Göckeler, ein schnurriger, alter Taugenichts und weltkundiger Herumtreiber, der nach langen Landstreicher-jahren hier hängengeblieben war. Sobald er etwas zu beißen oder zu trinken
hatte, tat er großartig und gab in den Kneipen eine drollige Faulpelzerphilosophie zum besten, nannte sich Fürst von Ohnegeld und Erbprinz von Schla-
raffia, bemitleidete jedermann, der von seiner Hände Arbeit lebte, und fand
immer ein paar Zuhörer, die ihn protegierten und ihm manchen Schoppen
zahlten.
Eines Abends, als Walter Kömpff einen seiner langen, einsamen und hoff-
nungslosen Spaziergänge unternahm, stieß er auf diesen Göckeler, welcher der Quere nach in der Straße lag und einen kleinen Nachmittagsrausch soeben
ausgeschlafen hatte.
Kömpff erschrak zuerst, als er unvermutet den Daliegenden zu Gesicht be-
kam, auf den er im Halbdunkel beinahe getreten wäre. Doch erkannte er rasch
den Vagabunden und rief ihn vorwurfsvoll an:
He Beckeler, was macht Ihr da?
Der Alte richtete sich auf, blinzelte vernügt und meinte:
Ja, und Ihr,
Kömpff, was macht denn Ihr da, he?
Dem so Angeredeten wollte es
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