Die Erzaehlungen 1900-1906
kom-
men, denn Leipolts schon einmal verlängerte Pachtzeit war nächstens wieder
abgelaufen, und dieser Termin konnte ohne erheblichen Verlust nicht versäumt werden.
Er gehörte schon nicht mehr ganz zu den Jungen, als er gegen Winteranfang
mit seinem Koffer in der Heimat anlangte und das Haus seiner Väter in Besitz nahm. Äußerlich glich er nun fast ganz seinem Vater, wie derselbe zur Zeit
seiner Verheiratung ausgesehen hatte. In Gerbersau nahm man ihn überall
mit der ihm zukommenden Achtung als den heimkehrenden Erben und Herrn
eines respektablen Hauses und Vermögens auf, und Kömpff fand sich leichter,
als er gedacht hatte, in seine Rolle. Die Freunde seines Vaters gönnten ihm
wohlwollende Grüße und hielten darauf, daß er sich ihren Söhnen anschließe.
Die ehemaligen Schulkameraden schüttelten ihm die Hand, wünschten ihm
Glück und führten ihn an die Stammtische im Hirschen und im Anker. Überall
fand er durch das Vorbild und Gedächtnis seines Vaters nicht nur einen Platz offen, sondern auch einen unausweichlichen Weg vorgezeichnet und wunderte
sich nur zuweilen, daß ihm ganz dieselbe Wertschätzung wie einst dem Vater
zufiel, während er fest überzeugt war, daß jener ein ganz andrer Kerl gewesen sei.
Da Herrn Leipolts Pachtzeit schon beinahe abgelaufen war, hatte Kömpff
in dieser ersten Zeit vollauf zu tun, sich mit den Büchern und dem Inventar
bekannt zu machen, mit Leipolt abzurechnen und sich bei Lieferanten und
Kunden einzuführen. Er saß oft nachts noch über den Büchern und war im
stillen froh, gleich so viel Arbeit angetroffen zu haben, denn er vergaß darüber zunächst die tiefersitzenden Sorgen und konnte sich, ohne daß es auffiel, noch eine Zeitlang den Fragen der Mutter entziehen. Er fühlte wohl, daß für ihn
wie für sie ein gründliches Aussprechen notwendig sei, und das schob er gern noch hinaus. Im übrigen begegnete er ihr mit einer ehrlichen, etwas verlegenen Zärtlichkeit, denn es war ihm plötzlich wieder klargeworden, daß sie doch der einzige Mensch in der Welt sei, der zu ihm passe und ihn verstehe und in der rechten Weise liebhabe.
Als endlich alles im Gange und der Pächter abgezogen war, als Walter die
meisten Abende und auch den Tag über manche halbe Stunde bei der Mutter
saß, erzählte und sich erzählen ließ, da kam ganz ungesucht und ungerufen
auch die Stunde, in der Frau Kornelie sich das Herz ihres Sohnes erschloß und wieder wie zu seinen Knabenzeiten seine etwas scheue Seele offen vor sich sah.
Mit wunderlichen Empfindungen fand sie ihre alte Ahnung bestätigt: ihr Sohn
war, allem Anschein zum Trotz, im Herzen kein Kömpff und kein Kaufmann
geworden, er stak nur, innerlich ein Kind geblieben, in der aufgenötigten Rolle 384
und ließ sich verwundert treiben, ohne daß er lebendig mit dabei war. Er
konnte rechnen, buchführen, einkaufen und verkaufen wie ein andrer, aber
es war eine erlernte, unwesentliche Fertigkeit. Und nun hatte er die doppelte Angst, entweder seine Rolle schlecht zu spielen und dem väterlichen Namen
Unehre zu machen oder am Ende in ihr zu versinken und schlecht zu werden
und seine Seele ans Geld zu verlieren.
Es kam nun eine Reihe von stillen Jahren. Herr Kömpff merkte allmählich,
daß die ehrenvolle Aufnahme, die er in der Heimatstadt gefunden hatte, zu
einem Teil auch seinem ledigen Stande galt. Daß er trotz vielen Verlockun-
gen älter und älter wurde, ohne zu heiraten, war wie er selbst mit schlechtem Gewissen fühlte – ein entschiedener Abfall von den hergebrachten Regeln der
Stadt und des Hauses. Doch vermochte er nichts dagegen zu tun. Denn es er-
griff ihn mehr und mehr eine peinliche Scheu vor allen wichtigen Entschlüssen.
Und wie hätte er eine Frau und gar Kinder behandeln sollen, er, der sich selber oft wie ein Knabe vorkam mit seiner Herzensunruhe und seinem mangelnden
Zutrauen zu sich selber? Manchmal, wenn er am Stammtisch in der Hono-
ratiorenstube seine Altersgenossen sah, wie sie auftraten und sich selber und einer den andern ernst nahmen, wollte es ihn wundern, ob diese wirklich alle in ihrem Innern sich so sicher und männlich gefestigt vorkamen, wie es den
Anschein hatte. Und wenn das so war, warum nahmen sie ihn dann ernst, und
warum merkten sie nicht, daß es mit ihm ganz anders stand?
Doch sah das niemand, kein Kunde im Laden und kein Kollege und Kame-
rad auf dem Markt oder beim Schoppen, außer der Mutter. Diese mußte ihn
freilich genau kennen, denn bei
Weitere Kostenlose Bücher