Die Erzaehlungen 1900-1906
ihr saß das große Kind immer wieder, klagend, Rat haltend und fragend, und sie beruhigte ihn und beherrschte ihn, ohne es
zu wollen. Die Holderlies nahm bescheiden daran teil. Die drei merkwürdigen
Leute, wenn sie abends beisammen waren, sprachen ungewöhnliche Dinge mit-
einander. Sein immerfort unruhiges Gewissen trieb den Kaufmann in neue und
wieder neue Fragen und Gedanken, über die man zu Rate saß und aus der Er-
fahrung und aus der Bibel Aufschlüsse suchte und Anmerkungen machte. Der
Mittelpunkt aller Fragen war der Übelstand, daß Herr Kömpff nicht glücklich
war und es gern gewesen wäre.
Ja, wenn er eben geheiratet hätte, meinte die Lies seufzend. O nein, bewies
der Herr, wenn er geheiratet hätte, wäre es eher noch schlimmer; er wußte
viele Gründe dafür. Aber wenn er etwa studiert hätte, oder er wäre Schreiber oder Handwerker geworden. Da wäre es so und so gegangen. Und der Herr
bewies, daß er dann wahrscheinlich erst recht im Pech wäre. Man probierte es mit dem Schreiner, Schullehrer, Pfarrer, Arzt, aber es kam auch nichts dabei heraus.
Und wenn es auch vielleicht ganz gut gewesen wäre , schloß er traurig,
es ist ja doch alles anders, und ich bin Kaufmann wie der Vater.
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Zuweilen erzählte Frau Kornelie vom Vater. Davon hörte er immer gern.
Ja, wenn ich ein Mann wäre, wie der einer gewesen ist! dachte er dabei und
sagte es auch bisweilen. Darauf lasen sie ein Bibelkapitel oder auch irgendeine Geschichte, die man aus der Bürgervereinsbibliothek dahatte. Und die Mutter
zog Schlüsse aus dem Gelesenen und sagte:
Man sieht, die wenigsten Leute
treffen es im Leben gerade so, wie es gut für sie wäre. Es muß jeder genug
durchmachen und leiden, auch wenn man’s ihm nicht ansieht. Der liebe Gott
wird es schon wissen, zu was es gut ist, und einstweilen muß man es eben auf sich nehmen und Geduld haben.
Dazwischen trieb Walter Kömpff seinen Handel, rechnete und schrieb Briefe,
machte da und dort einen Besuch und ging in die Kirche, alles pünktlich und
ordentlich, wie es das Herkommen erforderte. Im Lauf der Jahre schläferte ihn das auch ein wenig ein, doch niemals ganz; in seinem Gesicht stand immer
etwas, was einem verwunderten und bekümmerten Sichbesinnen ähnlich sah.
Seiner Mutter war anfangs dies Wesen ein wenig beängstigend. Sie hatte
gedacht, er würde vielleicht noch weniger zufrieden, aber mannhafter und entschiedener werden. Dafür rührte sie wieder die gläubige Zuversicht, mit der
er an ihr hing und nicht müde wurde, alles mit ihr zu teilen und gemein-
sam zu haben. Und wie die Zeiten dahinliefen und alles beim Gleichen blieb,
gewöhnte sie sich daran und fand nicht viel Beunruhigendes mehr an seinem
bekümmerten und ziellosen Wesen.
Walter Kömpff war nun nahe an vierzig und hatte nicht geheiratet und sich
wenig verändert. In der Stadt ließ man sein etwas zurückgezogenes Leben als
eine Junggesellenschrulle hingehen.
Daß in dies resignierte Leben noch eine Änderung kommen könnte, hätte
er nie gedacht.
Sie kam aber plötzlich, indem Frau Kornelle, deren langsames Altern man
kaum bemerkt hatte, auf einem kurzen Krankenlager vollends ganz weiß wur-
de, sich wieder aufraffte und wieder erkrankte, um nun schnell und still zu
sterben. Am Totenbett, von dem der Stadtpfarrer eben weggegangen war,
standen der Sohn und die alte Magd.
Lies, geh hinaus , sagte Herr Kömpff.
Ach, aber lieber Herr –!
Geh hinaus, sei so gut!
Sie ging hinaus und saß ratlos in der Küche. Nach einer Stunde klopfte sie,
bekam keine Antwort und ging wieder. Und wieder kam sie nach einer Stunde
und klopfte vergebens. Sie klopfte noch einmal.
Herr Kömpff! O Herr!
Sei still, Lies!
rief es von drinnen.
Und mit dem Nachtessen?
Sei still, Lies! Iß du nur!
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Und Sie nicht?
Ich nicht. Laß jetzt gut sein! Gute Nacht!
Ja, darf ich denn gar nimmer hinein?
Morgen dann, Lies.
Sie mußte davon abstehen. Aber nach einer schlaflosen Kummernacht stand
sie morgens schon um fünf Uhr wieder da.
Herr Kömpff!
Ja, was ist?
Soll ich gleich Kaffee machen?
Wie du meinst.
Und dann, darf ich dann hinein?
Ja, Lies.
Sie kochte ihr Wasser und nahm die zwei Löffel gemahlenen Kaffee und
Zichorie, ließ das Wasser durchlaufen, trug Tassen auf und schenkte ein. Dann kam sie wieder.
Er schloß auf und ließ sie hereinkommen. Sie kniete ans Bett und sah die
Tote an und rückte ihr die Tücher zurecht. Dann stand sie auf und sah nach
dem Herrn und
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