Die Erzaehlungen 1900-1906
Verwandter stellte den Antrag, Walter Kömpff zu entmün-
digen, doch sah man nach längeren Verhandlungen davon ab, teils weil nah-
verwandte, namentlich minderjährige Erbberechtigte nicht vorhanden waren,
teils weil Kömpff nach der Aufgabe seines Geschäfts unschädlich und der Be-
vogtung nicht bedürftig erschien.
Es sah aus, als kümmere sich keine Seele um den entgleisten Mann. Zwar
redete man in der ganzen Gegend von ihm, meistens mit Hohn und Mißfallen,
manchmal auch mit Bedauern; in sein Haus aber kam niemand, etwa nach
ihm zu sehen. Es kamen nur mit großer Schnelligkeit alle Rechnungen, die
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noch offenstanden, denn man fürchtete, hinter der ganzen Geschichte stecke
am Ende ein ungeschickt eingeleiteter Bankrott. Doch brachte Kömpff seine
Bücher richtig und notariell zum Abschluß und zahlte alle Schulden bar. Freilich nahm dieses übereilte Abschließen nicht nur seine Börse, sondern noch
mehr seine Kräfte unmäßig in Anspruch, und als er fertig war, fühlte er sich elend und dem Zusammenbrechen nahe.
In diesen bösen Tagen, als er nach einer überhitzten Arbeitszeit plötzlich
vereinsamt und unbeschäftigt sich selbst überlassen blieb, kam wenigstens
einer, um ihm zuzusprechen, das war der Schlotzer, Kömpffs ehemaliger Lehr-
herr aus Deltingen. Der fromme Handelsmann, den Walter früher noch eini-
gemal besucht, nun aber seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, war alt und
weiß geworden, und es war eine Heldentat von ihm, daß er noch die Reise nach Gerbersau gemacht hatte.
Er trug einen langschößigen braunen Gehrock und führte ein ungeheueres,
blau und gelb gemustertes Schnupftuch bei sich, auf dessen breitem Saum
Landschaften, Häuser und Tiere abgebildet waren.
Darf man einmal reinsehen?
fragte er beim Eintritt in die Wohnstube,
wo der Einsame gerade müd und ratlos in der großen Bibel blätterte. Dann
nahm er Platz, legte den Hut und das Schnupftuch auf den Tisch, zog die
Rockschöße über den Knien zusammen und schaute seinem alten Lehrling
prüfend in das blasse, unsichere Gesicht.
Also Sie sind jetzt Privatier, hört man sagen?
Ich habe das Geschäft aufgegeben, ja.
So, so. Und darf man fragen, was Sie jetzt vorhaben? Sie sind ja, ver-
gleichsweise gesprochen, noch ein junger Mann.
Ich wäre froh, wenn ich’s wüßte. Ich weiß nur, daß ich nie ein rechter
Kaufmann gewesen bin, drum hab ich aufgehört. Ich will jetzt sehen, was sich noch gutmachen läßt an mir.
Wenn ich sagen darf, was ich meine, so scheint mir, das sei zu spät.
Kann es zum Guten auch zu spät sein?
Wenn man das Gute kennt, nicht. Aber so ins Ungewisse den Beruf auf-
geben, den man gelernt hat, ohne daß man weiß, was nun anfangen, das ist
unrecht. Ja, wenn Sie das als junger Bursch getan hätten!
Es hat eben lang gebraucht, bis ich zum Entschluß gekommen bin.
Es scheint so. Aber ich meine, für so lange Entschlüsse ist das Leben zu
kurz. Sehen Sie, ich kenne Sie doch ein wenig und weiß, daß Sie es schwer
gehabt haben und nicht ganz ins Leben hineinpassen. Es gibt mehr solche
Naturen. Sie sind Kaufmann geworden Ihrem Vater zulieb, nicht wahr? Jetzt
haben Sie Ihr Leben verpfuscht und haben das, was Ihr Vater wollte, doch
nicht getan.
Was sollte ich machen?
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Was? Auf die Zähne beißen und aufrecht bleiben. Ihr Leben schien Ihnen
verfehlt und war es vielleicht, aber ist es jetzt im Gleis? Sie haben ein Schicksal, das Sie auf sich genommen hatten, von sich geworfen, und das war feig und
unklug. Sie sind unglücklich gewesen, aber Ihr Unglück war anständig und
hat Ihnen Ehre gemacht. Auf das haben Sie verzichtet, nicht etwas Besserem
zulieb, sondern bloß, weil Sie es müde waren. Ist es nicht so?
Vielleicht wohl.
Also. Und darum bin ich hergereist und sage Ihnen: Sie sind untreu ge-
worden. Aber bloß zum Schelten hätte ich mit meinen alten Beinen den Weg
hierher doch nicht gemacht. Drum sage ich, machen Sie’s wieder gut, so bald
wie möglich.
Wie soll ich das?
Hier in Gerbersau können Sie nicht wieder anfangen, das sehe ich ein. Aber
anderswo, warum nicht? Übernehmen Sie wieder ein Geschäft, es braucht ja
kein großes zu sein, und machen Sie Ihres Vaters Namen wieder Ehre. Von
heut auf morgen geht’s ja nicht, aber wenn Sie wollen, helfe ich suchen. Soll ich?
Danke vielmals, Herr Leckle. Ich will bedenken.
Der Schlotzer nahm weder Trank noch Essen an und fuhr mit dem nächsten
Zug wieder heim.
Kömpff war ihm dankbar, aber er
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