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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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besann sich, wie sie ihn anreden solle. Aber wie sie ihn ansah, kannte sie ihn kaum wieder. Er war blaß und hatte ein schmales Gesicht und
    machte große merkwürdige Augen, als wolle er einen durch und durch schauen,
    was sonst gar nicht in seiner Art war.
    Sie sind gewiß nicht wohl, Herr –
    Ich bin ganz wohl. Wir können ja jetzt Kaffee trinken.
    Das taten sie, ohne daß ein Wort gesprochen wurde.
    Den ganzen Tag saß er allein in der Stube. Es kamen ein paar Trauerbesuche,
    die er sehr ruhig empfing und sehr bald und kühl wieder verabschiedete, ohne daß er jemand die Tote sehen ließ. Nachts wollte er wieder bei ihr wachen,
    schlief aber auf dem Stuhle ein und wachte erst gegen Morgen auf. Erst jetzt fiel es ihm ein, daß er sich schwarz anziehen müsse. Er holte selber den Gehrock aus dem Kasten. Abends war die Beerdigung, wobei er nicht weinte und sich
    sehr ruhig benahm. Desto aufgeregter war die Holderlies, die in ihrem weiten Staatskleid und mit rotgeweintem Gesicht den Zug der Weiber anführte. Über
    das nasse Sacktuch hinweg äugte sie fortwährend, vor Tränen blinzelnd, nach
    ihrem Herrlein hinüber, um das sie Angst hatte. Sie fühlte, daß dieses kalte und ruhige Gebaren nicht echt war und daß die trotzige Verschlossenheit und
    Einsiedlerei ihn verzehren müsse.
    Doch gab sie sich vergebens Mühe, ihn seiner Erstarrung zu entreißen. Er
    saß daheim am Fenster und lief ruhelos durch die Zimmer. An der Ladentür
    verkündete ein Zettel, daß das Geschäft für drei Tage geschlossen sei. Es blieb aber auch am vierten und fünften Tag zu, bis einige Bekannte ihn dringend
    mahnten.
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    Kömpff stand nun wieder hinter dem Ladentisch, wog, rechnete und nahm
    Geld ein, aber er tat es, ohne dabei zu sein. An den Abenden der Bürger-
    gesellschaft und der Hirschengäste erschien er nicht mehr, und man ließ ihn
    gewähren, da er ja in Trauer war. In seiner Seele war es leer und still. Wie sollte er nun leben? Eine tödliche Ratlosigkeit hielt ihn wie ein Krampf bestrickt, er konnte nicht stehen noch fallen, sondern fühlte sich ohne Boden im Leeren schweben.
    Nach einiger Zeit begann es ihn unruhig zu treiben; er fühlte, daß irgend
    etwas geschehen müsse, nicht von außen her, sondern aus ihm selbst heraus,
    um ihn zu befreien. Damals fingen nun auch die Leute an, etwas zu merken,
    und die Zeit begann, in der Walter Kömpff zum bekanntesten und meistbe-
    sprochenen Mann in Gerbersau wurde.
    Wie es scheint, hatte der sonderbare Kaufmann in diesen Zeiten, da er sein
    Schicksal der Reife nahe fühlte, ein starkes Bedürfnis nach Einsamkeit und ein Mißtrauen gegen sich selbst, das ihm gebot, sich von gewohnten Einflüssen zu befreien und sich eine eigene, abschließende Atmosphäre zu schaffen. Wenigstens fing er nun an, allen Verkehr zu meiden, und suchte sogar die treue
    Holderlies zu entfernen.
    Vielleicht kann ich dann die selige Mutter eher vergessen , sagte er und
    bot der Lies ein beträchtliches Geschenk an, daß sie in Frieden abgehe. Die
    alte Dienerin lachte jedoch nur und erklärte, sie gehöre nun einmal ins Haus und werde auch bleiben. Sie wußte gut, daß ihm nicht daran gelegen war, seine Mutter zu vergessen, daß er vielmehr ihrem Andenken stündlich nachhing und
    keinen geringsten Gegenstand vermissen mochte, der ihn an sie erinnerte. Und vielleicht verstand die Holderlies ihres Herrn Gemütszustände ahnungsweise
    schon damals; jedenfalls verließ sie ihn nicht, sondern sorgte mütterlich für sein verwaistes Hauswesen.
    Es muß nicht leicht für sie gewesen sein, in jenen Tagen bei dem Sonder-
    ling auszuharren. Walter Kömpff begann damals zu fühlen, daß er zu lange das Kind seiner Mutter geblieben war. Die Stürme, die ihn nun bedrängten, waren
    schon jahrelang in ihm gewesen, und er hatte sie dankbar von der Mutterhand
    beschwören und besänftigen lassen. Jetzt schien ihm aber, es wäre besser ge-
    wesen, beizeiten zu scheitern und neu zu beginnen, statt erst jetzt, da er nicht mehr bei Jugendkräften und durch jahrelange Gewohnheit hundertfach gefesselt und gelähmt war. Seine Seele verlangte so leidenschaftlich wie jemals nach Freiheit und Gleichgewicht, aber sein Kopf war der eines Kaufmanns, und sein ganzes Leben lief eine feste, glatte Bahn abwärts, und er wußte keinen Weg,
    aus diesem sicheren Gleiten sich auf neue, bergan führende Pfade zu retten.
    In seiner Not besuchte er mehrmals die abendlichen Versammlungen der
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    Pietisten. Eine Ahnung des Trostes und der

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