Die Erzaehlungen 1900-1906
Sängerin den Halt in seiner Arbeit verliert und seine inne-
re Balance auf neue Weise erst dann wiederfindet, als er endlich die Aus-
sichtslosigkeit seiner Neigung erkennt, ist trotz ihrer Kürze eine eindringliche Parabel über die Entstehungsbedingungen von Kunst. Dieser Maler ist –
wie der glücklichere Held in der dreizehn Jahre später entstandenen Novelle
Klingsors letzter Sommer
– ein Besessener und Vorläufer des Expressioni-
sten Klingsor. Auch sein Schaffen endet mit einem furiosen Selbstportrait.
Eine Hommage an seine eigene Mutter, die der Dichter einen neunzigjähr-
igen Freund aufzeichnen läßt, ist das Kapitel
Aus den Erinnerungen eines
alten Junggesellen , das Hesse, wie früher den Hermann Lauscher, als fiktiver Herausgeber dem Druck übergibt. Diese Memoiren spielen im 18. Jahrhundert
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und beginnen mit einer Reminiszenz des Verfassers, der wie Hesse selbst an
der Beerdigung seiner Mutter nicht teilgenommen hat. Beim Betrachten der
vier von ihr erhaltenen Portraitgemälde und -zeichnungen schildert der Neun-
zigjährige jene Erinnerungen an diese so fromme wie lebenskluge Frau, die sich ihm besonders eingeprägt haben: u. a. einen ihrer pietistischen Träume, ihren Kummer über die Ungläubigkeit ihres Sohnes und wie sie es angestellt hatte,
ihn vor einem vorschnellen Verlöbnis zu bewahren. Auch hier durchdringen
sich Autobiographisches und Erfundenes zu einer Stimmigkeit, von deren et-
was nostalgischer Sentimentalität sich Hesse durch die Rolle des Herausgebers distanziert.
Jeder Leser von Unterm Rad, der Novelle
Der Zyklon
oder der Hexa-
meterdichtung
Der lahme Knabe
erinnert sich an die dort beschriebenen
Sommerferien und die Leidenschaft des Erzählers für das Angeln. Die 1904
entstandene, nach einer Formulierung aus dem
Sonnengesang
des hl. Franz
von Assisi benannte Schilderung
Sor aqua
(Schwester Wasser) ist eine Lau-
datio auf das Wasser in allen seinen Erscheinungsformen. Auch hier blickt ein alter Mann zurück auf seine zumeist erfreulichen Erfahrungen mit dem feuchten Element, dem er als Schwimmer, Segler, Ruderer, vor allem aber als Angler so sehr verfallen war, daß er bereits nach fünfzehn Jahren seinen Beruf aufgab, um die schönsten Gewässer in aller Herren Länder kennenzulernen. Drei
seiner Anglererlebnisse gibt er dabei zum besten, den Fang eines Karpfen im
Elsaß, eine Forellenjagd im Schwarzwald und ein Erlebnis beim Lachsfang am
Oberrhein.
Autobiographischen Hintergrund hat auch die kurze, in Briefform geklei-
dete Geschichte
Abschiednehmen . 1901/02 mußte sich Hesse wegen uner-
träglicher Augenschmerzen einer Operation unterziehen, wobei seine zu engen
Tränenkanäle aufgeschlitzt wurden. Dieser Eingriff erwies sich als kontraproduktiv. Denn die Folge waren beidseitige Bügelmuskelkrämpfe und Neuralgien
in der oberen Gesichtshälfte, die periodisch wiederkehrten und dazu führten, daß er monatelang weder lesen noch schreiben konnte. So fiel es ihm leicht, sich in die Lage eines Menschen zu versetzen, der befürchten muß, sein Augenlicht einzubüßen, wie der Ich-Erzähler, der kurz vor seiner Erblindung zehnfach zu schätzen beginnt, was er verlieren soll.
Die kurze Reisegeschichte über einen geschäftstüchtigen Anekdotenerzähler
Erinnerung an Mwamba , deren Niederschrift man auf den ersten Blick in
die Jahre 1911/12 datieren möchte, als Hesse seine erste und einzige längere Schiffsreise über Port Said durch den Suez-Kanal nach Indonesien unternahm,
ist – wie sein Datennotizbuch unwiderleglich ausweist – bereits 1905 entstanden. Also schon lange vor Antritt dieser Exkursion nimmt er in der Phantasie die fade Zerstreuungssucht und Melancholie
vorweg, welche die Passagiere
bereits in Port Said auf dieser wochenlangen Seefahrt befällt und die er sechs 495
Jahre später in seinem Reisetagebuch (SW 11) noch anschaulicher festhalten
wird. Sogar sein Fazit ist dasselbe:
. . . daß auch Reise, Fremde und neue
Bilderfülle nicht heilen kann, was die Heimat krank gemacht hat.
Denn diese
Expedition nach Ostindien (dem heutigen Malaysia) war für Hesse in der Tat
u. a. ein Ausbruchs- und Distanzierungsversuch vor der ihm mittlerweile all-
zu bürgerlich vorkommenden Rolle als Hausbesitzer und Familienvater nach
sechsjähriger Ehe.
Zur selben Zeit, also bereits im Jahre 1905, entstand auch die Posse von
Anton Schievelbeyn’s Ohn-freywilliger Reisse nachher Ost-Indien
in der
Art der
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