Die Erzaehlungen 1900-1906
verantwortlich war, bleibt offen in dieser nur einmal, in den
Sammelband Nachbarn (1908) aufgenommenen Charakterstudie.
Die wohl bekannteste von Hesses frühen Erzählungen,
In der alten Son-
ne , verdankt ihren Erfolg dem Humor ihres 26jährigen Verfassers. Am Bei-
spiel einiger Obdachloser-Insassen des zum Armenasyl umfunktionierten ehe-
maligen Gasthauses
Zur alten Sonne
– schildert Hesse das tragikomische
Zusammenleben solcher von der Gesellschaft ausrangierter Existenzen. Hier
stoßen zunächst nur zwei, dann vier mehr oder weniger schrullige Alte mit
extrem verschiedenen Vorgeschichten und konträren Temperamenten aufein-
ander: ein arbeitsscheuer Kleinfabrikant, ein alkoholsüchtiger Seiler, der in 491
seinem Schwachsinn glückliche Holdria und der lebensfrohe Landstreicher Fin-
kenbein. Jämmerlichkeit, Bosheit, Dünkel und Starrsinn, die das kleine Asyl
zu einer Zweiparteien-Gesellschaft machen, werden ohne jegliche moralische
Wertung wie Naturkräfte dargestellt, die sich nach ihren eigenen Gesetzen aus-leben müssen. Die Sympathie liegt auf Finkenbein, der sich als freier Mann
wieder auf Wanderschaft begibt und wie sein späterer Vetter Knulp diesen
Zwängen zu entrinnen vermag.
Von den Ursachen, warum ein Mensch zum Sonderling und Außenseiterwer-
den kann, handelt die Geschichte
Walter Kömpff . Sie schildert das tragische
Schicksal eines gutwilligen jungen Mannes, der daran gehindert wird, seine eigentlichen Talente zu entfalten. Er wird zum Opfer der Erwartungen seines
Vaters, der ihm noch auf dem Sterbebett das Versprechen abverlangt, die
berufliche Familientradition fortzusetzen und sein Geschäft zu übernehmen.
Bei dieser Problematik, der Hesse selber in seiner Jugend ausgesetzt war und die er dank seines Eigen-Sinns nur mit knapper Not zu bewältigen vermochte,
konnte er zu keiner souverän humorvollen Erzählhaltung wie in der Geschichte von den Sonnenbrüdern finden. Walter Kömpff, der für das Kaufmannsgewer-be nicht geschaffen ist, wird darüber immer wunderlicher und im Kontakt mit
den pietistischen Stundenbrüdern auf merkwürdige Weise religiös und
gei-
steskrank . Da seine Mitbürger ihn für verrückt halten, kommt er vollends aus der Balance und nimmt sich das Leben. In der Erstfassung des Manuskriptes
hieß die Erzählung
Der letzte Kömpff vom Markt , ein Hinweis, daß der Au-
tor dabei an den Sohn eines Kaufmannes dachte, der bis 1887 Inhaber eines
Ladens im Erdgeschoß seines Geburtshauses am Calwer Marktplatz gewesen
war. Das Schicksal dieses unfreiwilligen Krämers (sein wirklicher Name war
Emil Dreiß) nimmt Hesse zum Anlaß, um damit einmal mehr die Bedeutung
der Selbstbestimmung, ein Leitmotiv vieler seiner Schriften, vor Augen zu
führen.
Die nicht in Gerbersau, sondern in einer Marmorschleiferei an dem nur we-
nige Kilometer entfernten Sattelbach (in Wirklichkeit dem Flüßchen Teinach)
spielende Erzählung
Die Marmorsäge
schildert einen ähnlichen Konflikt
am Beispiel einer jungen Frau. Wieder ist einem Menschen, hier der Toch-
ter des Inhabers der Marmorsäge, die Freiheit genommen, ihre Zukunft selbst
zu gestalten, da sie einem Gutsverwalter versprochen ist, zu dem ihr Vater
in einem Abhängigkeitsverhältnis steht. Ohne davon zu wissen, verliebt sich
der 24jährige Ich-Erzähler, der noch dazu mit jenem Gutsverwalter befreun-
det ist, in das Mädchen, und dieser genießt das Schauspiel in der Gewißheit, daß Helene ihm ohnehin sicher ist. Da auch Helene den Ich-Erzähler liebt,
gerät sie darüber in solche Bedrängnis, daß sie schließlich aus Angst vor ihrem Vater keinen anderen Ausweg sieht, als Selbstmord zu begehen. Faktische Anhaltspunkte, ob sich die Geschichte in Wirklichkeit so abgespielt hat, konnten 492
bisher noch nicht nachgewiesen werden, wenngleich sie, wie alle gut erfun-
denen Erzählungen, so realitätsnah geschildert ist wie die Topographie ihres Schauplatzes. Die Marmorschleiferei und mehrere Sägemühlen an der Teinach
bestehen noch heute.
Die letzte
Gerbersau -Geschichte dieses Bandes
In einer kleinen Stadt
zeigt so programmatisch wie keine andere, welche Bedeutung die Schicksale
in dieser kleinen Welt für ihn hatten. Um so merkwürdiger ist es, daß Hes-
se diese
unveröffentlichte Romanhälfte
nur ein einziges Mal für Velhagen
& Klasings Monatshefte zum Druck freigab. Der Zeichner Hermann Lauten-
schlager, dessen Reputation weit über Gerbersau hinausreicht, da seine Arbeiten in
Weitere Kostenlose Bücher