Die Erzaehlungen 1900-1906
wieder
aus der Gegend.
Die bis ins Mittelalter zurückreichenden Bräuche der wan-
dernden Handwerksgesellen, ihre Eigenarten und das Rotwelsch ihrer Sprache
sind darin – kurz bevor das Industriezeitalter diesen Traditionen ein Ende
setzte – noch einmal ähnlich eindringlich festgehalten wie in den Schilderungen des Kesselschmiedes und Arbeiterdichters Heinrich Lersch (1889–1936).
Doch nicht nur an den 1915 erschienenen Knulp erinnert die Erzählung. Auch
Züge des künftigen Max Demian werden in den Schulepisoden mit Bastians
Widersacher und künftigem Freund Otto Renner vorweggenommen, welche
sehr anschaulich die von Kraftproben bestimmte Hierarchie unter Schülern
darstellt. Hesses Kommentar für die Redaktion von
Velhalgen & Klasings
Monatsheften , welche die Erzählung dann doch nicht publizierte, schließt
mit dem Satz:
Wenn ich dieses Fragment heute veröffentliche, so tue ich es
besonders aus dem Grunde, weil darin ein Stück deutschen Volkstums, das
Handwerk und das Handwerksburschentum geschildert wird, das zu meiner
Knaben- und Jünglingszeit noch nahezu in den selben Formen und mit den
selben Bräuchen lebendig war wie vorher Jahrhunderte lang, während es in-
zwischen untergegangen ist.
Die Rahmenerzählung
Hans Amstein
greift auf Konstellationen zurück,
die Hesse, wie oben erwähnt, nur vom Hörensagen kannte. Laut den Recher-
chen von Siegfried Greiner kam zwei Jahre vor Hesses Geburt eine in Indien
geborene Engländerin in sein Elternhaus, die in Wirklichkeit nicht Salome,
sondern Bessie Thomas hieß. Das damals 17 Jahre alte Mädchen soll so at-
traktiv gewesen sein, daß es allen Männern den Kopf verdrehte und dies auf
eine Weise ausnützte, daß Hesses Großvater Hermann Gundert
die teufli-
sche Person
nach einem Jahr wieder loszuwerden versuchte. Noch auf der
Rückreise habe sie
hoch amüsiert
den Antrag eines leichtsinnigen engli-
schen Hauptmannes erhalten, ihn sogar geheiratet, dann aber selbst schlechte Erfahrungen gemacht. Daß Salome, wie es am Ende der Erzählung heißt,
kei-
nen leichten Weg gehabt
habe, trifft auch auf Bessie Thomas zu.
Denn sie
lebte jahrelang . . . von ihrem Mann getrennt und die fünf Stief- und ihre fünf 490
leiblichen Kinder waren auf viele Orte verteilt.
(Siegfried Greiner, a. a. O.,
S. 73) Die Gestalt des Medizinstudenten Hans Amstein (nach einem Sekretär
der Basler Mission benannt, den Hesse kannte) und sein trauriges Schicksal
ist erfunden in dieser den gefährlichen Typus der biblischen Salome aktuali-
sierenden Geschichte.
Zu den ersten ausführlicheren Erzählungen aus der
Kleinen Welt
von
Gerbersau gehören neben Unterm Rad und
Karl Eugen Eiselein
die Ge-
schichten
Der Lateinschüler ,
Garibaldi ,
Die Marmorsäge ,
In der
alten Sonne ,
Walter Kömpff
und
In einer kleinen Stadt . Wie
Peter
Bastian
aus Zavelstein muß auch
Der Lateinschüler
Karl Bauer als Pen-
sionär in die nächstgrößere Stadt ziehen, um ein Gymnasium besuchen zu
können. Wichtiger freilich als die Schule ist ihm seine erste Liebe zu Tine, einem Mädchen, das ihm an Alter und Reife überlegen ist. Wie behutsam das
Mädchen den Lateinschüler aus der Traumwolke einer unerfüllbaren Liebe be-
freit (unter der lebensklugen Protektion einer bravourös gezeichneten herzens-guten Magd), ist mit so viel Einfühlungsvermögen geschildert, daß man den
Erfolg dieser Erzählung als eine der populärsten deutschen Liebesgeschichten versteht.
Die Erinnerung an den wunderlichen Calwer Nachbarn
Garibaldi , die
sich 1904 beim Gespräch zweier Fahrgäste im Abteil eines Zuges nach Kon-
stanz entzündet, ist weniger eine Erzählung als ein Gedenkblatt von der Art, wie sie Hesse 1937 in einem gleichnamigen Sammelband vorgelegt hat. Denn
außer den Personennamen ist kaum etwas darin erfunden.
Garibaldi , die-
ses bereits im fünften Kapitel von Unterm Rad vorkommende etwas unheim-
liche Calwer Original mit dem Blick eines gefangenen Raubvogels, das der
zehnjährige Hesse von dem Fenster seines Zimmers aus beobachten konnte,
hat ihn bis in die Träume hinein verfolgt. Dieser Garibaldi, in der Erzählung Schorsch Großjohann genannt, hieß in Wirklichkeit Georg Großhans, war als
Tagelöhner bei der Straßenreinigung beschäftigt und wurde von Hesses Mut-
ter, seiner Statur und Barttracht wegen, nach dem italienischen Freiheitshelden (1807–1882) benannt. Ob er für den Tod des in der Nagold ertrunkenen
Mühlenbauers
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