Die Erzaehlungen 1900-1906
ihnen meine künftigen Kameraden und Kollegen sah, und gewiß kein Herrensöhnchen war,
daß ich gegen eben diese Volksschüler als Lateiner focht und Kriege führte –
wobei ich ja spaßigerweise erst noch
Nichtlateiner
war. Ich fühlte oft deut-
lich das Widersinnige und Komische, das darin lag; aber schließlich kämpften wir ja nicht wegen Rang, Stand und Prinzipien, sondern bloß um zu raufen,
und mein unbefriedigtes Gemüt hatte sich nun einmal für eine Weile auf diese 79
Kämpfe geworfen und gab ihnen eine wahre Leidenschaft. Die Reibereien zwi-
schen beiden Schulen, bei denen übrigens meistens die an Zahl überlegenen
Gegner die Oberhand behielten, waren uralt, und hatten wiederholt die Leh-
rer und sogar die Polizei ernstlich beschäftigt. jetzt kam ein neues Leben in den alten Krieg, denn ich warf mich bald zu einem Rädelsführer auf und trieb die Sache möglichst ins Große. In der steilen, breiten Salzgasse fanden richtige Schlachten statt, in den Rathaus-Arkaden kamen Belagerungen, Überfälle und
hitzige Gefechte vor. Mich fürchteten alle, ich war zugleich stark und flink, es kam sehr selten vor, daß ein Einzelner mich angegriffen hätte. Und doch fand ich meinen Meister.
Wir hatten einmal ein halbes Dutzend Volksschüler in einen Gassenwin-
kel gedrängt und hieben aus vollen Kräften auf sie ein. Da kam ein and-
rer Volksschüler daher, ein dreizehnjähriger, stiller Bursche, der sich nie an den Kämpfen beteiligte, ein Mensch mit einem ernsten, fast schon erwachsen
blickenden Gesicht, er hieß Otto Renner.
Schäm dich doch!
rief er mir zu, und ich antwortete mit einer verächt-
lichen Herausforderung.
Da sprang er ins Gedränge, zog mich am Arm heraus und stand mir zornig
gegenüber. Ein Schlag von mir begann den Kampf. Wir rangen wohl zehn
Minuten, jeder mit voller Kraft. Nie hätte ich den stillen Kerl für so stark gehalten. Nur ganz langsam, langsam gab ich seiner überlegenen Kraft nach,
bis ich zerquetscht, verzweifelt und wütend am Boden lag. Im Weggehen rief
er mir noch zu, ich möge mir jetzt eine Lehre nehmen, denn so solle es mir
jedesmal ergehen, wenn er mich wieder dabei finde, wie ich seine schwächeren Kameraden verhaue.
Ein paar Tage hielt ich Ruhe. Dann wurde eines Nachmittags meine Füh-
rerschaft zu einer neuen Schlägerei beansprucht. Ich ging mit. Bei der Metz-
gergasse hob das Steinewerfen und höhnische Herausfordern an und es ging
nicht lange, so waren wir mit einem Dutzend handgemein. Da erschien mein
Feind Renner.
Willst du aufhören oder soll ich dir die Rippen einschlagen?
rief er mir
befehlend zu.
Ich ging auf ihn los. Er aber ließ sich diesmal gar nicht aufs Ringen ein,
sondern warf mich mit einem plötzlichen furchtbaren Stoß gewaltig gegen den
nächsten Prellstein, und ging weg. Mir mußten zwei Kameraden aufhelfen,
ich blutete nirgends, fühlte aber einen unheimlichen Schmerz. Ich hatte das
Schlüsselbein gebrochen.
Am zweiten Tag meines Krankseins besuchte mich Otto Renner, mein Be-
sieger. Ich empfing ihn mit Verlegenheit; es schien mir sonderbar, daß er sich zeigte.
Was willst du?
fragte ich, eher feindselig.
80
Ich will dir sagen, daß es mir leid tut. Ich habe es nicht gewollt. Ich wäre auch nicht fortgelaufen, wenn ich gewußt hätte, daß du etwas gebrochen hast.
Ich antwortete nicht. Da setzte er sich unten auf mein Bett.
Wie alt bist
du?
fragte er nach einer Weile.
Zwölfeinhalb.
Willst du Kaufmann werden?
Nein.
Deine Tante sagt es ja.
Sie sagt es, ja. Aber ich will nicht. Nein, ich werde nicht Kaufmann.
Was willst du denn werden?
Geht’s dich was an?
Er sah mich lächelnd an.
Du, Bastian , sagte er,
wir haben ja jetzt keine
Händel mehr. Oder bist du mir noch bös?
Nein. Aber warum hast du dich drein gemischt?
Warum soll ich zusehen, wenn du meine Kameraden prügelst? Weißt du,
es hat mich geärgert, daß du so den Häuptling spielst. Wenn einer stark ist, braucht er darum doch die andern nicht zu quälen.
Ja, ja.
Also, sagst du mir jetzt, was du gern werden möchtest?
Meinetwegen. Schlosser will ich werden.
Im Ernst?
rief er und riß die Augen auf.
Natürlich. Ich lüge dich nicht an.
Ja, aber dazu brauchst du doch nicht zu den Lateinern zu gehen!
Nein. Aber man wollte halt, daß ich Kaufmann werde, darum bin ich
Lateiner. Ich werd’s aber nicht. Ich werde Schlosser, verlaß dich drauf.
Die Schlosserei ist aber kein Spaß. Die will gelernt sein. Verstehst du schon was
Weitere Kostenlose Bücher