Die Erzaehlungen 1900-1906
davon?
Nein, eigentlich nicht. Das heißt, beim Ziegler bin ich früher manchmal in
der Werkstatt gewesen. Aber er läßt mich nicht mehr.
Da sagte Renner zu meiner großen Verwunderung:
Du kannst ja zu mir
kommen, wenn du magst.
Zu dir?
Jawohl. Der Schlosser Renner ist mein Onkel. Ich bin fast jeden Abend
dort.
Natürlich versprach ich zu kommen, sobald ich wieder gesund wäre. Am
nächsten Tage kam er nochmals und brachte mir eine Orange mit, es war die
erste in meinem Leben, die ich zu essen bekam. Bei diesem Besuch schloß ich
mit ihm eine Freundschaft. Die Renners waren lauter ernsthafte, etwas lang-
same, tüchtige, brave Menschen, und Otto hatte manche Besonderheiten. Er
paßte gut zu mir, da er aber ohne Vater noch Mutter aufgewachsen und in
vielem früh auf sich selber angewiesen gewesen war, hatte sein ganzes Wesen
etwas vorzeitig Altes an sich. Er war wohl so leidenschaftlich wie ich, aber es 81
ging bei ihm mehr nach innen, so daß er trotz seiner Gescheitheit und trotz
seinen kräftigen Gliedern ein sehr stiller und beinah scheuer Knabe war. Mir erschien er schon damals wie ein Mann. Lesen liebte er wohl, aber weniger als ich; dafür war er ein sehr fleißiger Zeichner. Halbe Sonntage saß er am Tisch, einen Fetzen Papier vor sich, und zeichnete Doppelschlösser, Maschinenteile, Schrauben und Eisenkonstruktionen, wobei er nachdenklich die breite Stirn
faltete und seufzte, wenn ein Hindernis entstand oder er eine Vorlage nicht
ganz begriff. Die Vorlagen holte er aus der Abendschule im Zeichensaal. Auch ich wollte in die Abendschule eintreten, wurde aber nicht angenommen, weil
ich noch zu jung sei. Nun begann ich bei ihm zeichnen zu lernen, und er war
strenger als ein Schulmeister mit mir. Wenn er mich aber, wie es im Sommer
manchmal geschah, des Sonntags nach Zavelstein begleitete und wir uns un-
terwegs im Wald ins Moos legten, dann hörte er meine Erzählungen ernsthaft
und andächtig an. In Zavelstein droben war er dann still und bescheiden und
sah zu meiner Mutter hinauf, als wäre es seine eigene. Und ihr gefiel es, daß ich einen so ernsthaften, männlichen Freund mitbrachte. Als ich einmal meiner Mutter laut und heftig widersprach, sah Otto mich über den Tisch weg
erschrocken und wehrend an und hörte auf dem ganzen Heimweg nicht auf,
mir deswegen Vorwürfe zu machen.
An ihm lag es auch, daß ich wieder häufiger zur Lisabeth kam. Die alte
Frau fragte mich zuviel aus und ich hatte angefangen sie zu meiden. Nun
bat er mich oft, wir möchten doch zu ihr gehen. So erfuhr sie denn auch bald mein Geheimnis, daß ich nämlich Schlosser werden wolle, und war nach einiger Widerrede ganz damit einverstanden. Mit dem Geheimnis hatte es nun aber
ein Ende, denn natürlich lief sie damit gleich zu meiner Mutter. Vom Lehrer, von der Mutter und ihrer Base wurde mir jetzt arg zugesetzt, von meiner
Unvernunft zu lassen und Kaufmann zu werden. Da ich hart blieb, hörte das
Reden darüber auf, aber in der Lateinschule wurde ich gelassen. Dort hatte
ich wenig Freude mehr. Seit ich von den Raufereien wegblieb, hatte ich in der Klasse keine Freunde mehr. Und als es sich herumsprach, ich wolle Schlosser
werden, da begannen einige dieser Knaben mich zu verachten, deren Väter alle selber Handwerksleute waren. Dem Zieglerfritz, der mich darum verhöhnte,
obwohl sein eigener Vater Schlosser war (er selber aber sollte studieren), gab ich einen so scharfen Denkzettel, daß er mich in Ruhe ließ. Und auf einmal ging die ganze Klasse und die ganze Schule mich nichts mehr an und ich lief fremd darin herum und es war mir an keinem gelegen, denn seit ich mit Otto umging
und abends in die Rennersche Werkstatt kommen durfte, war ich unversehens
aus den Kinderschuhen gewachsen und hatte auch an den Knabenspielen kein
Vergnügen mehr.
Doch war, wenn ich mit Renner ging oder bei ihm zuhause saß, nicht nur
von der Schlosserei und vom Werkzeichnen die Rede. Sondern er hatte eine
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heimliche Liebe zu Geschichten und noch mehr zu Liedern, die er selber we-
der erzählen noch singen konnte. Ich mußte ihm oft Geschichten erzählen, und wenn wir durch den Zavelsteiner Wald oder durchs Teinacher Tal marschier-ten, bat er mich oft, ich möge etwas singen. Da ich ihm gerne den Gefallen
tat und meine eigene Freude daran hatte, ist mir von damals her bis heute
manches Dutzend Lieder im Kopf geblieben. Dabei freute ich mich immer mit
unbestimmter Hoffnung auf die Zeit, da ich einmal als wandernder
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