Die Erzaehlungen 1900-1906
und bei der Lamm-Linde. Ich hörte sie meinen Namen rufen,
gab aber keine Antwort und kam erst zwei Stunden später heim, als es schon
ganz Nacht war. Die Mutter saß im finstern Zimmer, ich kam herein und grüßte 76
nicht. Sie stellte mir schweigend mein Essen zurecht, und schweigend aß ich
und ging zu Bett, von wo aus ich sie zuerst beten und dann weinen hörte. Mir tat das Herz weh vor Reue und Leid, aber als sie mit der Kerze an mein Bett
kam, stellte ich mich schlafend. Aber es war mir sehr schlecht zumute.
Im ganzen war ich ein lebhaftes und gar nicht sanftes, aber gutartiges Kind.
Nur sehnte ich mich und wartete im stillen begierig auf die Zeit, da die schöne große Welt mir aufgehen und ich ein freies Leben in meine eigenen Hände
nehmen würde. Wenn die Mutter mich gelegentlich einmal, leider allzu sel-
ten, in die zwei Stunden entfernte Oberamtsstadt Calw mitnahm, dann lachte
mir das Herz. Und in Calw betrachtete ich die Häuser und Schaufenster und
Wirtsschilder, ich besah mir die Kaufleute und die Beamten und besonders
die staatlichen Handwerker nicht mit der bloß glotzenden Bewunderung des
Bauern, der doch im Ernst nichts auf der Welt ernst nimmt als den eigenen
Stand, sondern ich beschaute sie mit aufrichtiger Bewunderung und mit der
festen Hoffnung, später selbst einmal ihresgleichen zu werden.
In der Schule war ich obenan. Zwar zeigte ich, nachdem ich einmal geläufig
lesen gelernt hatte, wenig Eifer mehr; aber die Aufgaben der ländlichen Volks-schule waren leicht und meine Altersgenossen waren mir an Gaben unterlegen,
so daß ich stets der erste war und ohne Mühe weiterkam. Nebenher las ich
Kalender und Volksbüchlein aus dem Vorrat der Boten-Lisabeth, und hie und
da eine aus der Stadt her verirrte Zeitung, aus denen ich meine Vorstellung
vom Leben erweiterte und neuen Stoff zu unersättlichen Träumen schöpfte. Da
aber gereichte mir eben meine Begabung beinah zum Schaden. Der Schullehrer
nämlich nahm mich aufs Korn, lobte mich vor jedermann und lief unablässig
bald zum Schulzen, bald zu meiner Mutter mit der Mahnung, mich auf die
Calwer Lateinschule zu schicken, denn ich müsse studieren.
Damals hatte ich alle Lust dazu. Das heißt, nicht zum Studieren, sondern
nach Calw zu gehen, denn das schien mir der erste Schritt ins gelobte Land zu sein. Auch die Lisabeth war auf meiner Seite und hielt mir die Stange. Später aber sah ich ein, daß es nicht wohlgetan war. Es ist und bleibt falsch, daß man für solche, die nicht Buchgelehrte werden sollen, die Schule zur Grundlage der ganzen Ausbildung macht. Außerdem war damals der Lehrplan unsrer kleinen
Lateinschulen so altmodisch unpraktisch, daß im spätem Berufsleben meistens
die Volksschüler den Lateinern überlegen waren.
Zum Glück war ich schon zu alt, um das Latein rasch genug nachholen
zu können, denn Lateinisch begann man damals schon mit acht Jahren. So
wurde ich als
Nichtlateiner
in die dritte Klasse nach Calw geschickt, das
heißt ich ging, ebenso wie einige Schicksalsgenossen, zwar in die Lateinschu-le, lernte aber kein Latein, sondern wurde während der Lateinstunden mit
etwas Zeichnen, Französisch und dergleichen Sachen beschäftigt. Auch hier
lernte ich leicht, ohne aber eigentlich eine Freude daran zu haben. Wir lernten 77
die Stämme Israels und die linken Nebenflüsse des Neckars auswendig, und
einige Geschichtszahlen; im übrigen schien unter unsern Lehrern ein stilles
Übereinkommen darüber zu bestehen, daß es ja doch unmöglich sei, irgend
etwas Nützliches und Wirkliches in der Schule zu lernen, darauf ließen sie sich denn gar nicht ein, und wenn ich gelernt habe einen Ahorn von einer Linde zu unterscheiden und ein Kalb von einem Esel, so verdanke ich es nicht ihnen.
Die Ansicht des Lehrers und meiner Mutter war nun, da es ohne Latein
mit dem Studieren doch nichts war, ich solle nach Ablauf der Schuljahre und
Erwerbung des Einjährigen-Zeugnisses Kaufmann oder Schreiber werden. Ich
ließ sie meinen und reden, ohne viel dazu zu sagen. Ich selber wußte ganz
genau, daß ich niemals weder ein Kaufmann noch ein Notar oder Beamter,
sondern ein Handwerker werden würde, und zwar war es schon früh das Schlos-
serhandwerk, auf das ich meine Wünsche richtete. In Calw war ich zu einer
Base der Lisabeth für sehr billiges Geld in Kost gegeben, wozu die Gemeinde
einen kleinen Zuschuß bewilligte, und von nun an brachte ich nur noch die
Samstagnachmittage und Sonntage in
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