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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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Zavelstein zu. Doch kam meine Mut-
    ter, die für Calw oft Näharbeiten übernahm, auch zwischenein nicht selten
    in die Stadt. So hatte ich denn alle Gelegenheit, das Stadtleben kennenzulernen. Zwar ist Calw nur klein und mag einem Großstädter beinah wie ein Dorf
    erscheinen. Aber es war eben dennoch eine Stadt, das heißt ein Ort, dessen
    Bewohner nicht von Wald und Ackerbau lebten, sondern von Handwerk und
    Handel. Deshalb fühlte ich mich dort wohl, denn die Menschen waren bewegli-
    cher, weitgereister und freier als auf dem Lande. Man sah allerlei Gewerbe und Industrie, sah schöne Häuser, Eisenbahn, Ratsherren, Polizei, hörte manchmal Musik bei Festen oder an den Tagen der Feuerwehr.
    Bald, oder eigentlich schon nach dem ersten Tage, fühlte ich mich hier ganz
    und gar heimisch. Auch in der Schule galt ich bloß in den ersten Wochen
    für einen Bauernbuben. Da ich an Leib und Seele beweglich war, auch nie-
    mals die schwere Tracht der Walddörfer getragen hatte, und da namentlich
    der berüchtigte plumpe Gang der Waldbauern, die
    Wasserkniee , mir nicht
    anhaftete, genoß ich unter den Kameraden bald das Ansehen des Gleichbe-
    rechtigten. Dafür war ich allerdings jenen ziemlich zahlreichen Bauernbuben, die die Schule besuchten, fremd und fast verhaßt geworden. Mein Ansehen
    stieg sogar gerade durch ein Ereignis, das ihm leicht hätte schaden können.
    Ein Lehrer fragte mich eines Tages zufällig, wer und was denn mein Vater
    gewesen sei. Ich wurde verlegen und mußte antworten, daß ich nie einen ge-
    habt hätte. Die meisten von meinen Klassenkameraden wußten wohl, was das
    bedeute, und einer davon verhöhnte mich deswegen nach der Lektion im Schul-
    hof. Da ging ich auf ihn zu, faßte ihn langsam und sorgfältig an beiden Ell-
    bogen und drückte ihm Arme und Leib langsam und ruhig, als sei es nur ein
    freundlicher Scherz, so stark zusammen, daß er bleich wurde und auf der Stirn 78
    schwitzte und flehentlich bat, ich möchte ihn loslassen. Dieser Beweis meiner großen Körperkraft verschaffte mir unter den Schulkameraden mehr Achtung,
    als wenn mein Vater Oberamtmann gewesen wäre.
    Unter meinen Klassenkameraden war ein Schlossersohn, Fritz Ziegler, der
    mir auf meine Bitten öfters Zugang zur Werkstatt seines Vaters verschaffte. Da war ich in meiner wahren Heimat, wenn ich je und je am Abend oder an einem
    Feiertag mit Fritz mich in der Werkstatt umsehen und darin basteln konnte.
    Ich lernte schnell die paar mir noch fremden Werkzeuge kennen, und hatte
    meine zärtliche Freude an den Vorräten von Eisenstangen, Werkzeugstahl,
    Draht und Messing. Doch war der Vater Ziegler mir nicht gut gesinnt, obwohl
    ich in seiner Werkstatt nie das geringste verdorben oder entwendet habe –
    aber einmal machte ich mit Fritz in der Esse Feuer an, um ein Eisen warm zu
    machen, und daß wir da an den Kohlen und der Esse hantiert hatten, verzieh
    er mir nicht. Ich war sehr traurig, als er mich eines Tages wegjagte und mir das Wiederkommen für immer verbot. Nun entstand eine Zeit der Langeweile
    für mich, da ich nicht mehr wußte, was ich mit meinen Freistunden anfangen
    sollte. Diese Langeweile trieb mich zu allerlei Neuem, das nicht ohne Folgen blieb.
    Zunächst, da ich das Bedürfnis nach Gesellschaft und Verkehr empfand,
    und Fritz Ziegler sich mit mir wegen der Schelterei seines Vaters verzank-
    te, suchte ich meine Kameraden abends auf der Gasse. Ihre Spiele – es ging
    meistens um Murmeln – waren mir nicht sonderlich wichtig, deshalb fand ich
    mich bald mit den Wilderen unter ihnen zusammen, deren Hauptvergnügen
    teils in Schelmenstreichen, teils in Raufhändeln mit den Volksschülern be-
    stand. Zwischen den
    Lateinern
    nämlich und den Volksschülern, die wir
    auch
    Deutsche
    oder
    Volkslappen
    hießen, war ewiger Krieg. Wir standen
    im Ruf von Herrensöhnchen, hochmütigen Besserwissern späteren Beamten
    und Leuteschindern, während wiederum die Lateiner in den
    Deutschen
    ge-
    meines Volk ohne Schwung und Bildung sahen. In Wirklichkeit war es bloß die
    natürliche Wildheit des Knabenalters, sowie der Neid und Ehrgeiz zwischen
    den Elternhäusern, aus denen der ewige Kampf sich nährte. Denn meistens
    trafen sich der Volkslapp und der Lateiner von heute sofort nach den Schuljahren schon als Lehrlinge im gleichen Kaufhaus oder an der gleichen Drehbank,
    und die Feindschaft war vergessen. So geschah das Wunderliche, daß ich, der
    ich innerlich ja viel mehr auf der Seite der Volksschüler stand, in

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