Die Erzaehlungen 1900-1906
Verliebtheit nicht, weder sprach sie je vom Heiraten
noch nahm sie mehr als kleine Geschenke von mir an. Ich ging wie in einer
Wolke umher und war vor ungewohnter Lust fast von Sinnen. Wenn sie zum
Kuß mir langsam und inbrünstig das glatte Gesicht entgegen bot, dann schien
ein wunderbar tiefer Glanz in ihren Augen, dem ich wie einem Zauber verfiel.
In dieser Zeit vergaß ich alles Gute, das ich zuhause und von meinem ersten
Meister gelernt hatte. Mein Wesen veränderte sich und was Ungutes in mir
verborgen lag, kam ans Tageslicht. Namentlich war ich gegen jedermann, die
Agathe ausgenommen, unverträglich, hochfahrend und lieblos, plauderte nicht
mehr mit den Kameraden am Schraubstock und ging mit Otto Renner scheu
und hochmütig um. Daran war natürlich das schlechte Gewissen schuld, das
ich hatte, und ich erinnere mich, daß mir eines Tages ganz deutlich vor Augen stand, wie ich nun von den drei Verboten des guten Meisters in Calw zwei
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schon mit Füßen getreten hatte. Und oft war es mir unbequem, einen so alten
und treuen Freund neben mir zu haben, während ich auf schlechten Wegen
ging. Ans Trinken hatte ich mich auch längst gewöhnt und saß Abend für
Abend am Biertisch.
Dieses ganze unselige Wesen dauerte über drei Monate. Da nahm die Agathe
mich eines Abends beiseite, machte ein erschrockenes Gesicht und fing an zu
erzählen. Sie hätte irgendwo bei Dresden einen Schatz gehabt, der Kaufmann
war, und mit dem sie verlobt gewesen sei. Nun hätte aber wegen diesem und
jenem das Warten kein Ende nehmen wollen, darüber sei ihr der Kaufmann
allmählich entleidet, denn er sei gar zu gewissenhaft und schulmeisterlich gewesen, auch nicht halb so hübsch wie ich. Darauf ließ sie sich mit einem Po-
samentier ein, der ein wilder Kunde war, sie oft zum Tanz führte und der,
wie sie andeutete, sie verführt und verdorben habe, alles Schlechte habe sie von ihm gelernt. Dem sei sie am Ende, weil er ein gefährlicher, rabiater Bursche und im Zorn zu allem fähig war, davongelaufen und hätte sich in aller
Stille hierher nach Chemnitz gemacht. Das wäre nun alles in Ordnung und
sie hätte mich zum Sterben lieb. Aber jetzt sei der Posamentier auf ihre Spur gekommen, schon neulich hätte er ihr geschrieben und Reisegeld angeboten,
damit sie wieder komme, sie habe aber nicht geantwortet, und jetzt sei er ihr nachgereist, er sei hier in der Stadt und habe geschworen, mich und sie lieber umzubringen als beieinander zu lassen. Und ich möchte doch ja auf meiner
Hut sein, auch die nächsten Tage mich nicht bei ihr sehen lassen, da sie ihn gütlich loszuwerden hoffe. Und so weiter.
Ich fluchte natürlich und schwor, daß ich niemals vor einem Posamentier
mich verkriechen und sie ihm überlassen werde. Trotzdem zwang sie mir das
Versprechen ab, zwei Tage nicht zu ihr zu kommen. Die ganze Nacht brachte
ich vor Ärger und Wut kein Auge zu. Am andern Tag machte ich am Nachmit-
tag blau und hockte in allerlei Schenken herum, wollte meinen Zorn vertrinken und wurde doch nur immer wilder. Abends um halb zehn Uhr ging ich nach-hause.
O, das war ein schrecklicher Abend, ich weiß nicht, wie ich es erzählen soll.
Also um halb zehn komme ich nachhaus, steige die Treppe hinauf und höre von
unsrer Kammer her ein Lärmen. Wie ich eintrete, steht ein fremder Mensch
vor mir, der eben hinaus will. Am Boden liegt der Otto Renner, blutet und
zuckt mit den Armen durch die Luft. Ich begreife nichts. Wie ich aber in der Faust des Fremden einen Revolver sehe, wird es mir klar, ich brülle laut hinaus und stürze ihm an die Gurgel. Er drückt auf mich ab, der Schuß geht in die
Wand. Aber ich habe ihn schon an der Kehle, reiße ihn zu Boden, kniee auf
ihm, haue ihm mit der Faust ins Gesicht, bis alles blutet, und fange an ihn
zu würgen. Er schlägt mit Armen und Beinen um sich, aber ich würge und
würge weiter, er muß kaputt sein! Langsam wird er stiller, und zuckt nicht
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mehr. Da kommt der Hauswirt herein, gleich darauf ein Nachbar mit einem
Schutzmann. Auf der Treppe höre ich viele Menschen sich drängen.
Ich kniete immer noch auf dem Mann, als der Schutzmann mich wegriß,
und plötzlich war auch noch ein zweiter Schutzmann da. Der Fremde war tot,
daran hatte ich keinen Zweifel, aber Renner lebte noch. Ich sah nichts davon, mir schimmerte es rot und grün vor den Augen und ich fiel zu Boden. Sobald
ich wieder wach war, wurde ich mit Handschellen abgeführt.
Die Verhöre dauerten lang und ich
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