Die Erzaehlungen 1900-1906
nicht so glücklich
wären, und beide hatten wir im Sinn, später wieder zum kleinen Handwerk
zurückzukehren. Dazu kam noch, daß in der Fabrik manche nachdenkliche und
belesene Arbeiter waren, über deren Gespräche ich mir immer wieder Gedan-
ken machen mußte. Die organisierten Sozialdemokraten zwar, zu denen die
Mehrzahl der Arbeiter schon damals gehörte, überredeten mich nicht, denn
ich war stolz auf mein Handwerk und damit zufrieden; immerhin lernte ich
dies und jenes bei ihnen.
Andre hörte ich öfters über wichtige Dinge reden. Einer namentlich, der viele Bücher las, sagte uns oft: Ihr seid wie Vieh und lebt wie Vieh dahin, weil ihr nicht denken wollt und nichts vom Leben versteht. Er sprach über die Arbeit, über das Trinken, über das Heiraten sehr ernsthaft und wichtig, so daß er auch in mir ein Verlangen erweckte, auf den rechten Weg zu kommen und gute,
wahrhaftige Gedanken zu haben. Dann aber kam der Schorsch Bresemann,
der eine leichte Haut, aber ein gescheiter und witziger Mensch war. Er sprach so glatt und drollig, daß man gern zuhörte, man lachte über ihn und gab
ihm doch meistens recht, und er bewies mir oft, daß das Leben gar nicht des
Nachdenkens wert sei, worauf er mich mitnahm und sich Bier von mir zahlen
ließ.
Aber auch einem Soldaten der Heilsarmee und einem Guttempler hörte ich
häufig zu, wie sie ihre Überzeugungen vortrugen, und während ich immer
eifriger ins Grübeln und Denken geriet, wurde die Finsternis immer uner-
gründlicher. Zwar redete Renner mir oft begütigend zu, aber ein guter Red-
ner war er nicht. Zwei wichtige Ereignisse machten der ganzen Quälerei ein
vorläufiges Ende.
In einem kleinen Wirtshaus, wohin ich mit Schorsch Bresemann manchmal
gekommen war, saß ich eines Montag abends allein an einem Tisch. Am andern
Ende der Stube war ein Tisch voll betrunkener Arbeiter, sonst keine Gäste
da. Es bediente eine Kellnerin, ein schönes gutgewachsenes Mädchen. Diesem
Mädchen wurde am Tisch der Betrunkenen stark zugesetzt, obwohl sie bald
einem das vorlaute Maul verhielt, bald einen andern auf die Finger schlug.
Zuletzt lief sie in die Kredenz und hielt sich da verschanzt, während drei oder vier von den Männern sie auch dort bedrängten. Plötzlich, als es ihr zu grob wurde, hör ich sie rufen:
Weg jetzt, Lumpenpack, da drüben am Tisch sitzt ja
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mein Schatz!
Ich denke mir nichts dabei, werfe aber doch einen freundlichen
Blick zu ihr hinüber.
Da kommt sie zu mir gelaufen, setzt sich ohne weiteres auf meinen Schoß
und beginnt mir schön zu tun. Sie streichelt mir das Gesicht, legt ihren Kopf an meine Wange und sagt mir alles Liebe. Im ersten Augenblick wollte ich sie wegstoßen, da sieht sie mir so fest und zärtlich in die Augen, daß mir anders zumut wird. Ich spürte ihr Haar an meinem Gesicht und ihre leichte Last an
mich gedrückt, da zog ich das hübsche Gesicht zu mir her und küßte es fest auf den Mund. Die andern drüben höhnten und krakeelten, mir war es einerlei.
Ich hielt die schöne fremde Person im Arm und war ganz von ihrer Wärme
und Zärtlichkeit berauscht. Erst als neue Gäste eintraten, lief sie weg, sah aber den ganzen Abend mich zärtlich an und strich mir, so oft sie an meinem Tisch vorüberging, eilig mit der Hand über den Rücken oder übers Haar.
Von diesem Abend an begann eine ganz neue Zeit für mich. Bei Tag und
Nacht hatte ich nichts mehr im Sinn als das Weib, meine ganze freie Zeit
brachte ich teils in der Kneipe bei ihr, teils mit ihr auf Spaziergängen zu. War die Schänke leer, so saß sie bei mir, waren Gäste da, so umarmte und küßte
sie mich im Hausflur. Sie war das erste Mädchen, mit dem ich ernstlich zu
tun hatte, und ich war sehr verliebt und lernte die Liebeskunst schnell und
begierig von ihr. Otto Renner merkte natürlich bald, wie es um mich stehe,
und hielt es mir vor. Ich ließ ihn reden. Allmählich begann er mich eindringlich zu tadeln und gab mir oft böse Worte, auf die ich böse Antwort gab. Auch
gegen meine Kollegen wurde ich rauh und reizbar, es gab mehrmals richtige
Händel, wobei nur meine große Körperkraft mich schützte. Meine Arbeit tat
ich nach wie vor, doch ohne Lust und innere Freude daran zu haben.
Daß jenes schöne Mädchen, welches Agathe hieß, kein Engel war, konnte
ich wohl sehen. Wie hätte sie sich mir sonst so nachgeworfen? Aber es war
wie ein Schicksal, daß ich ihr anhing und nicht von ihr lassen konnte. Miß-
braucht hat sie meine
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