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Die Erzaehlungen 1900-1906

Die Erzaehlungen 1900-1906

Titel: Die Erzaehlungen 1900-1906 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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aus. Da seufzte er und lachte
    zugleich, wie er es oft an sich hatte, und sagte:
    Siehst du wohl: – Und ich bin
    von Religion ein Schuster! Jetzt begreifst du, daß ich mein Handwerk verlernt und verleugnet habe.
    Es war auch wirklich seit vielen Jahren kein Pech mehr
    an seine Finger gekommen.
    Es ist nicht mir allein so gegangen, daß ich den Quorm gleich beim ersten
    Ansehen liebgewann. Er hat unzählige gute Freunde gehabt, auch unter sol-
    chen, die seiner nicht bedurften. In seinem Wesen und namentlich in seinem
    Blick und in seiner Stimme war etwas, das die Menschen ohne Unterschied
    ihm günstig machte, so daß sogar viele Landjäger und Polizisten ihn gern
    hatten und ihm viel durch die Finger sahen. Am meisten hingen jedoch die
    Weiber an ihm. Fast an allen Orten hatte er Weiberbekanntschaften, auch
    unter den Schenkmädchen und Wirtinnen, so daß er im Notfall um Speisung
    und Nachtlager nie in Sorge zu sein brauchte. Wenn er so eine bat, ihm einen Riß zu nähen oder ein neues Band um den Hut zu machen oder ihm ein Hemd
    zu waschen, so waren sie stolz darauf, für den Quorm zu arbeiten. Du lieber
    Gott, wie ist er oft mit ihnen umgegangen! – und doch liefen sie ihm sogleich wieder nach. Er hätte auch oft genug gut und mit Geld heiraten können. Aber
    er wollte nicht.
    Vieles habe ich bei diesem merkwürdigen Mann erlebt und gelernt. Aber
    darüber berichte ich ein andermal.
    (1902)
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    Der Wolf
    Noch nie war in den französischen Bergen ein so unheimlich kalter und lan-
    ger Winter gewesen. Seit Wochen stand die Luft klar, spröde und kalt. Bei
    Tage lagen die großen, schiefen Schneefelder mattweiß und endlos unter dem
    grellblauen Himmel, nachts ging klar und klein der Mond über sie hinweg, ein grimmiger Frostmond von gelbem Glanz, dessen starkes Licht auf dem Schnee
    blau und dumpf wurde und wie der leibhaftige Frost aussah. Die Menschen
    mieden alle Wege und namentlich die Höhen, sie saßen träge und schimpfend
    in den Dorfhütten, deren rote Fenster nachts neben dem blauen Mondlicht
    rauchig trüb erschienen und bald erloschen.
    Das war eine schwere Zeit für die Tiere der Gegend. Die kleineren erfroren
    in Menge, auch Vögel erlagen dem Frost, und die hageren Leichname fielen
    den Habichten und Wölfen zur Beute. Aber auch diese litten furchtbar an
    Frost und Hunger. Es lebten nur wenige Wolfsfamilien dort, und die Not trieb sie zu festerem Verband. Tagsüber gingen sie einzeln aus. Da und dort strich einer über den Schnee, mager, hungrig und wachsam, lautlos und scheu wie
    ein Gespenst. Sein schmaler Schatten glitt neben ihm über die Schneefläche.
    Spürend reckte er die spitze Schnauze in den Wind und ließ zuweilen ein
    trockenes, gequältes Geheul vernehmen. Abends aber zogen sie vollzählig aus
    und drängten sich mit heiserem Heulen um die Dörfer. Dort war Vieh und
    Geflügel wohlverwahrt, und hinter festen Fensterladen lagen Flinten angelegt.
    Nur selten fiel eine kleine Beute, etwa ein Hund, ihnen zu, und zwei aus der Schar waren schon erschossen worden.
    Der Frost hielt immer noch an. Oft lagen die Wölfe still und brütend bei-
    sammen, einer am andern sich wärmend, und lauschten beklommen in die
    tote Öde hinaus, bis einer, von den grausamen Qualen des Hungers gefoltert,
    plötzlich mit schauerlichem Gebrüll aufsprang. Dann wandten alle anderen
    ihm die Schnauze zu, zitterten und brachen miteinander in ein furchtbares,
    drohendes und klagendes Heulen aus.
    Endlich entschloß sich der kleinere Teil der Schar, zu wandern. Früh am
    Tage verließen sie ihre Löcher, sammelten sich und schnoberten erregt und
    angstvoll in die frostkalte Luft. Dann trabten sie rasch und gleichmäßig davon.
    Die Zurückgebliebenen sahen ihnen mit weiten, glasigen Augen nach, trabten
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    ein paar Dutzend Schritte hinterher, blieben unschlüssig und ratlos stehen und kehrten langsam in ihre leeren Höhlen zurück.
    Die Auswanderer trennten sich am Mittag voneinander. Drei von ihnen
    wandten sich östlich dem Schweizer Jura zu, die anderen zogen südlich weiter.
    Die drei waren schöne, starke Tiere, aber entsetzlich abgemagert. Der einge-
    zogene helle Bauch war schmal wie ein Riemen, auf der Brust standen die
    Rippen jämmerlich heraus, die Mäuler waren trocken und die Augen weit und
    verzweifelt. Zu dreien kamen sie weit in den Jura hinein, erbeuteten am zweiten Tag einen Hammel, am dritten einen Hund und ein Füllen und wurden von
    allen Seiten her wütend vom Landvolk verfolgt. In der

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