Die Erzaehlungen 1900-1906
Rast. Ich mußte ihm von
Zavelstein und Calw erzählen, von meiner Mutter und vom Meister Renner,
auch eine von den Mordgeschichten der Boten-Lisabeth. Erlag daneben im
staubigen Rasen und schaute durch beide hohle Hände in den Himmel.
Sieh, junger Mensch , sagte er dann,
da lieg ich nun an der Straße im
fremden Land und betrachte mir die Berge und das Wasser, als ob das hier
mein eigener Garten wäre. Hab ich denn eine andere Freude auf der Welt, he?
Du bist ein fleißiger Schlosser und freust dich an deiner Hände Werk, wirst
auch einmal heiraten und Meister werden. Mich aber duldet es an keinem Ort,
auch am schönsten nicht. Wenn ich dran denke, daß nun anderwärts weit von
hier die Sonne über fremde Berge scheint, dann muß ich fort, dann muß ich
Wochen und Monate laufen, als hätt ich Eile, und suche doch nichts in der
Welt.
Und nach einigem Schweigen:
Ich würde sagen: komm mit mir, junger
Bruder! Du gefällst mir gut und meistens wandre ich gern zu zweien, und
singen kannst du auch. Aber du bist mir zu jung und zu gut dazu, Freundchen.
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Man sieht viel Schlechtes in diesem Leben, und viel Schlechtes tut man selber
– das ist nicht anders. Ich will dich nicht mitnehmen, vielleicht später einmal.
Du wirst immer wieder von mir hören. Heut aber wollen wir noch zusammen
bleiben und fröhlich sein. Schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr. Du bist heute mein Gast.
Dann gab er mir noch einen kleinen Rat, nämlich ich möge es immer so
halten wie wir beide es soeben hier vor Bingen getan hätten, und möchte
mich davor hüten, müde und verstaubt und verschwitzt und mühselig in einem
neuen Städtchen anzukommen, sondern lieber mich vorher eine Stunde ins
Gras legen, oder ein Bad im Bach oder Fluß nehmen, und dann erst einziehen,
frischer und freundlicher.
Man hat dann mehr Freude dran , sagte er,
und
außerdem sind die Leute dann freundlicher mit einem, und darauf muß man
sehen.
So nahm er mich denn mit nach Bingen hinein und in ein Wirtshaus. Wir
aßen zu Abend, Brot und Käse, und tranken zwei Schoppen Wein. Auch mein
Nachtlager durfte ich nicht selbst bezahlen. Wir hatten zu zweien ein kleines Stübchen. Dalagen wir im offenen Fenster noch bis spät in die warme Nacht
hinein.
Da Quorm mir von Berlin abgeraten hatte und ich mich dessen erinnerte,
was ich von den sächsischen Fabriken wußte, auch kein Weg mir zu weit war,
gedachte ich jetzt möglichst geradenwegs östlich zu gehen, verließ den Rhein bei Coblenz, tat in Wetzlar ein paar Tage Aushilfsarbeit und ließ dort meine Schuhe sohlen, und kam ziemlich mühselig und bei schlechtem Wetter durch
eine meist rauhe und arme Hügelgegend allmählich zum Thüringerwald. In Ei-
senach fand ich Arbeit und blieb neun Wochen, sah auch die berühmte Wart-
burg und andere Berge. Zuletzt fuhr ich mit der Eisenbahn nach Chemnitz.
Da ich aus Calw vom Aufseher einer großen Strickerei eine Empfehlung be-
saß, fand ich Aufnahme in einer prächtigen Fabrik, wo die großen selbsttätigen Strickmaschinen gemacht werden. Damit war meine erste Reise beendigt, denn
ich blieb dort zwei Jahre in Arbeit.
Es gelang mir nämlich, meinem Freund Otto Renner einen Platz in einer
andern Chemnitzer Maschinenfabrik zu verschaffen, und er kam von Mann-
heim her gefahren. Wir mieteten zu zweien eine saubere Schlafkammer, der
Verdienst war gut und wir hatten sehr reichlich zu leben. Otto Renner tat
hübsch Geld auf die Sparkasse, und auch ich trug manchmal etwas hin, aber
wenig, denn ich begann damals mir ein freieres Leben anzugewöhnen. Doch
blieb ich mit Renner gut Freund, wir sprachen oft von der Heimat und von
unserer Reisezeit miteinander, auch von unserer Arbeit, welche lehrreich und schön war. Er hatte meistens an großen Dampfmaschinen zu tun, zu montie-ren und zu reparieren, und ich arbeitete an den großen Strickstühlen, die zu den feinsten und verwickeltsten Maschinen gehören und von dort aus in alle
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Welt gingen. Es sind schöne, künstliche Werke und die Arbeit daran war mir
lieb.
Dennoch war ich nicht so recht zufrieden. Seit ich Calw hinter mir hatte,
war immer eine wunderliche Unruhe in meinem Wesen. Ich mußte viel über
mancherlei Dinge nachdenken, die ich nicht verstand und die mich quälten.
Zum Beispiel sehnte ich mich, trotz dem hohen Lohn, oft sehr in die klei-
nen Handwerksstätten zurück, in denen ich gearbeitet hatte, sprach auch
mit Otto darüber. Auch er meinte, daß wir in der Fabrik
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