Die Erzaehlungen 1900-1906
erfuhr folgendes: der Fremde war Aga-
thes Posamentier. Nach einem heftigen Streit mit dem Mädchen, das er auch
schon mit Erschießen bedroht hatte, hatte er meine Wohnung erfragt und
war in unsre Kammer gedrungen, hatte meinen Freund für mich gehalten und
angeschrieen, Renner hatte natürlich nichts begriffen und den Mann hinaus-
gewiesen, darauf hatte der Fremde zweimal auf ihn geschossen. Dann war ich
dazu gekommen.
Während der Verhandlungen starb Otto Renner, der noch vom Bett aus
als Zeuge hatte dienen müssen, im Spital. Ich saß in meiner Haft allein und
kam lange Zeit zu keinem klaren Gedanken. Daß plötzlich ein Totschlag und
dazu die Verantwortung für den Tod meines Freundes auf mir lag, das warf
einen tiefen Schatten in mein Gemüt. Zugleich mußte ich, obwohl mir dabei
graute, mir gestehen, daß ich froh darüber war den Posamentier erwürgt zu
haben, nicht Agathes, aber Ottos wegen. Allmählich flossen alle diese ver-
wirrten Gefühle zu einer großen Traurigkeit über den Tod meines Freundes
zusammen. Von Agathe wollte ich nichts mehr wissen und war froh, sie nicht
mehr sehen zu müssen.
Ein Jahr mußte ich brummen. In dieser langen Zeit setzte sich eine Bit-
terkeit und ein Haß gegen die Menschen in mir fest, zugleich eine kaum er-
trägliche Sehnsucht nach der Freiheit, die mich furchtbar quälte. Es kamen
Briefe von meiner Mutter, die ich beantwortete, auch um sie tat es mir leid
genug, aber auch dieser Schmerz ging in der Bitterkeit und Sehnsucht unter.
Mit Wut dachte ich daran, daß die alte Lisabeth in Zavelstein jetzt auch meine Geschichte neben denen vom Messerkarle erzählen könne.
Bei meiner Entlassung erhielt ich eine kleine Summe, den Rest meines Ver-
dienstes in der Fabrik, ausbezahlt und konnte nun gehen wohin ich wollte.
Vorher mußte ich mich noch als Rekrut stellen, hatte Glück und wurde frei.
Jetzt schien mir die Zeit gekommen, meinem alten Wandertriebe ohne andere
Rücksichten nachzugehen, zumal ich als entlassener Sträfling in der Gegend
doch nicht leicht Arbeit gefunden hätte. So verkaufte ich ein paar kleine Habse-ligkeiten, schnallte den Berliner über die Achseln und verließ Stadt und Land.
Mit Lust reckte ich meine Glieder; schon früher hatte ich oft ungewöhnlich
große Tagesmärsche gemacht. Die meisten Handwerksburschen und Stromer
nämlich sind gehfaul, machen am Tag kaum ihre drei Stunden und verbrin-
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gen die übrige Zeit teils mit Fechten, teils mit Herumlungern im Feld, in
Wirtshäusern, oder liegen und schlafen halbe Tage im Schatten der Bäume.
Ich aber bin häufig sieben, acht und mehr Stunden des Tages marschiert, die
Stunde zu fünf Kilometer. Wenn die Unruhe über mich kam, dann lief ich
große Strecken in wenig Tagen weg.
Zunächst schlug ich mich durchs Fränkische und Bayrische, arbeitete kurze
Zeit in Fürth, sah die Stadt Nürnberg, dann beschloß ich durch meine Heimat
zu ziehen, um sie wieder zu sehen, und erreichte auch in kurzer Zeit Stuttgart.
Diese Stadt sah ich zum erstenmal, obwohl sie so nah bei meiner Heimat liegt.
Die Stadt Calw vermied ich und ging über Stammheim und Teinach nach
Zavelstein. Dort kam ich am Nachmittag an, lag aber bis zum Dunkelwerden
im Wald. Dann suchte ich meine Mutter auf, pochte an ihr Fenster und setzte
sie in keinen kleinen Schrecken. Wir saßen die ganze Nacht auf, ich mußte ihr alles genau erzählen. Sie hörte still und erschrocken zu, seufzte und weinte auch dazwischen, dann steckte sie mir Brot und Käse und dürre Pflaumen in
den Berliner und zwei Taler in die Tasche, küßte mich zweimal und ließ mich, da ich darauf bestand, am frühen Morgen ziehen.
Da ich meine Mutter wiedergesehen und nirgends in der Welt einen festen
Ort hatte, es auch die schönste Frühlingszeit war, folgte ich meinem Verlan-
gen, das mich südlich und in die Schweiz hinzog. Freudenstadt war schnell
erreicht, dann konnte ich durchs halbe Murgtal auf einem leeren Metzgers-
wagen mitfahren. Zum Dank erzählte ich dem Metzger die ganze Chemnitzer
Totschlagsaffäre, jedoch so, als ginge die Sache mich selbst nichts an und ich hätte sie bloß vom Hörensagen. Er hörte aufmerksam zu und sagte, es wäre
nicht nötig gewesen, den armen Bastian, der seinen Schatz und seinen Freund
verloren hatte, auch noch einzulochen. Dann lud er mich ein, mit ihm in
Schönmünzach zu übernachten, da ich ihn auf dem langen Wege so kurzweilig
unterhalten hätte.
Dieser Metzger war ein
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