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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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und trug die erträumte ›Wertheimer‹ im ganzen Hause umher. Dabei lag sie keuchend im Bett. Das war der vierte Traum oder das Fieber.
    Am anderen Tage war Rosine fieberfrei, aber sterbenstraurig. Sie wußte, daß der Pfarrer nicht wegen des Saufestes und nicht wegen der Kirchenmusik, sondern bloß von wegen der Seligkeit heraufgekommen sei. Und das war sehr arg; nun wußte sie, daß sie sterben werde und sterben ohne Vollbringung. Wie Moses. Eine namenlose Verzweiflung brach über sie herein. Den ganzen Tag hatte sie nur einen Gedanken: Aufspringen und alles, was in der Stube stand, lag oder hing, gegen den Deckel der ›Wertheimer‹ stemmen. Dabei lag sie mit bleiernen Gliedern in den Kissen und hätte nicht aufzustehen vermocht, selbst wenn die Gardinen zu brennen begonnen hätten. Sie wartete in einem fort, daß irgendwas geschehen sollte. Aber der Abend kam ganz mechanisch und mit ihm Klothilde, die die Lampe mit dem dunkelgrünen Schirm auf den Tisch setzte. Dann trat sie in zärtlichen Schritten näher.
    »Ist dir besser?« hörte Rosine fragen.
    Die Kranke antwortete nicht. Wer konnte sie zwingen, zu antworten?
    Klothilde hielt sie wohl für eingeschlafen und begann leise, ein paar Schritte zurück zu tun.
    Aber da fuhr Rosine in den Kissen auf. Die ärmliche Gestalt in dem gestreiften Barchentnachtleibchen wuchs empor.
    »So«, sagte sie heiser. »Fragst du nach meinem Befinden? Das ist rührend. Laß mir nur noch ein bißchen Zeit. Ich mach ja schon, was ich kann. Aber so schnell kann ich nicht sterben.«
    »Rosine!« sagte Klothilde erschrocken und besänftigend. Sie wollte die Hand auf die Stirne der Kranken legen. Aber die Kranke packte sie und warf sie zurück wie ein giftiges Tier.
    »Rühr mich nicht an, du Herzlose. Du hast mich ins Grab gebracht. Du, du …« Der Atem ging ihr aus. Sie hustete heftig und trocken und zitterte dabei. Als sie sich wieder erholt hatte, war sie wie ein Kind. Sie faltete die Hände und bettelte mit leiser, verschwimmender Stimme: »Klothilde, einzige, gute Klothilde, zeig mir die ›Wertheimer‹, zeig mir nur ein einzigmal die ›Wertheimer‹.«
    Klothilde schrieb alles dem Fieber zu. Sie schob die grüne Lampe näher an das Bett, holte die schwarze Kiste, die einem sachten Druck irgendwo gehorchte und aufschnellte. Gierig langte Rosine mit ihren abgemagerten Fingern tief hinein, und ihre Hände schöpften den Inhalt, wie ein Verdürstender die Quelle schöpft. Nichts übersah sie: alte Lose waren da, die vielleicht erst im Jenseits fällig wurden, und halbzerfallene Briefe mit unmöglichen Schriften und knatternde Blumen und seltsam duftende Heiligenbilder und blasse Photographien. Auf einer derselben stand an der Rückseite: »Der schönen Klothilde in treuer Liebe ihr Verehrer Jakob Gans.« Rosine hatte das schon viermal gelesen, ohne zu wissen, daß sie las, und sie las es noch dreimal, ehe sie ahnte, was sie eigentlich gelesen hatte.
    Wie kraftlos sanken ihre Hände, alles entfiel ihnen, und Klothilde raffte rasch allen Tand zusammen und hob das schwere Kästchen von ihren Knieen. In diesem Augenblick hatte Rosine das Gefühl, daß man ihr das Leben aus ihren Gliedern nehme. Ein Leichtsein war in ihr, und ein schwebendes Taumeln berauschte sie. Sie atmete tief. Aber eine Weile, nachdem Klothilde aus dem Zimmer gegangen war, sah sie auf, blickte bang und hastig um sich und gab sich dann einem Weinen hin, das erst leise war, aber allmählich wie ein entfesselter Wildstrom ihren schwachen Körper hinriß und zerrte und rüttelte. Und sie trieb dahin ins Uferlose. Sie fühlte dunkel: Sie hatte dreißig Jahre an der schwarzen Kiste gebohrt, um endlich drin die Trümmer ihres Traums zu finden.
    Sie weinte wie ein Kind, und Klothilde stand ratlos an ihrem Bett. Später kam der Arzt. Er ließ den Herrn Pfarrer sofort bitten, und zwar nicht zur Whistpartie. Und der Herr Pfarrer kam und sprach diesmal nur von der Seligkeit. Denn es war an der Zeit.
    Rosinchen hatte das Geheimnis gelöst. Es war nun nicht mehr nötig, daß sie mit Klothilde zusammen hinter den roten Geranien wohnte. Sie konnte jetzt allein sein. Ganz am Rande des Städtchens sollte sie wohnen. Ihr Umzug war seltsam genug: Sie fuhr mit vier weißen Pferden, alle guten Karbacher, die seit dreißig Jahren Rosinchen sagen mußten, wenn sie Klothilde sagten, gingen mit, und die Schulknaben sangen ein heiliges Lied.

Greise
(1897)
    Herr Peter Nikolas hatte mit seinen fünfundsiebzig Jahren eine ganze Menge

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