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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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könnte Klothilden auch gar nicht angenehm sein, da ›Er‹ sie seinerzeit offenbar vernachlässigt und Rosine, man denke trotz des Namens, augenfällig vorgezogen hatte. Rosine lächelte immer noch bei diesem Bewußtsein. Übrigens hatte die Sache mit dem ›Namen‹ noch ein anderes Bedenken. Er hieß nämlich gar nicht so, wie man eigentlich heißen soll. Er hieß: Jakob Gans. Das war ein Unglück; denn erstens ist Jakob ein Name für Raben und nicht für Menschen im vorletzten Romankapitel, und dann war Gans nicht schön und falsch obendrein, da es doch eigentlich ›Gänserich‹ hätte klingen müssen. Denn daß ihn Rosine immer Rolf oder Robert rief, änderte an diesem Schicksal ebensowenig, wie daß Rosinchen sich in ihren Träumen ›Thea‹ nannte, oder doch sich von dem Traumrobert so rufen ließ.
    Sie litten schließlich beide an demselben Mißgeschick und gehörten deshalb nur umso sicherer zusammen.
    Daß Jakob Gans später anderer Meinung wurde, hat ihm Gott gewiß verziehen; denn Jakob Gans war, um berühmt zu werden, immer noch geeigneter (man konnte es dann vielleicht lateinisch schreiben), als der schreckliche Name Rosine paßt, um geheiratet zu werden.
    So war Rosinchen in dieser Zeit lauter Versöhnung und Nachgiebigkeit, versuchte mit steifen Fingern ein paar langvergessene Lieder von Schumann auf dem verstimmten Klavier, las den Heine aus ihrem Konfirmandenexemplar und ging vor dem Schlafen mit losem Haar im Zimmer auf und nieder.
    Aber die Jahre blieben weder vor ihren Schumannliedern, noch vor ihren offenen Zöpfen stehen. Als sie zum fünfundvierzigstenmal Rosine gefeiert hatte, hörte sie unwillkürlich mit allem auf: mit dem Schumannspielen, mit dem Heinelesen und mit dem Haarelosflechten. Sie fühlte sich altern im Dienste der Mission. Sie bemerkte, daß sie auch im dunklen Zimmer ihre Scheitel im Spiegel sehen konnte, weil etwas wie gefangenes Mondlicht drinnen war. Und das wurde mit jedem Tag heller und deutlicher. Ihre Melancholie war durch die viele Übung ganz unbewußt geworden. Rosine ging, ohne es gewahr zu werden, immer tiefer und tiefer in ihre Dunkelheit wie in einen großen Wald. Endlich, als sie ganz im Wald war, brach ein Gewitter los. Solche Gewitter haben viel Gefahr: Auf einmal war nichts als Haß in ihr. Haß gegen das unbarmherzige Schicksal, welches ihr diese mühsame, hoffnungslose Aufgabe wie ein Stahljoch aufgebürdet hatte, Haß gegen ihr eigenes Untätigsein, Haß gegen die Stuben, in denen sie wie lebenslang gefangen wartete und im Opferdienste für eine geheime Sache leise hinstarb, und Haß vor allem gegen Klothilde, deren scheinbares Zusehen ihr brutal und gemein erschien.
    Hätte sie nur jemanden dritten einweihen dürfen. Aber sie erkannte rasch, daß dies nicht möglich sei, schon deshalb, weil sie sich nicht imstande fühlte, einen Fremden von der Größe und Wichtigkeit ihrer Lebenspflicht zu überzeugen. Es wäre ihr ein Trost gewesen, wenn der wilde Kampf ihrer Seele nicht so ganz unbeobachtet hätte vertoben müssen, wenn ihr einzig dastehender Heroismus einen verständigen Biographen, wenn ihre rührende Aufopferung einen begeisterten Dichter gefunden hätte. Aber das war nicht zu erhoffen, und sie weinte viel, bei Tag aus Zorn und bei Nacht aus Rührung über ihre beispiellose Selbstlosigkeit.
    Vor Wut und Weinen wurde sie endlich sehr krank.
    Der Doktor kam, sich jeden Tag eine Viertelstunde an ihrem Bett auszuruhen, putzte mich hochgezogenen Brauen seine runden Brillen und fragte einmal, wohl nicht ganz absichtslos, ob der Pfarrer im Haus verkehre. Man könne ja einmal zu dritt eine Partie Whist veranstalten. Zu Rosinens nicht geringem Erstaunen nickte Klothilde zu diesem Vorschlag, und der Pfarrer kam, sprach von der ewigen Seligkeit und wann die nächste Messe mit Gesang sein wird, und daß abends Saufest beim ›Roten Ochsen‹ sei, welches er keinesfalls versäumen dürfe.
    In der nächsten Nacht hatte Rosine drei Träume. Einen von der ewigen Seligkeit und dem Herrn Pfarrer. Das war ein schöner Traum. Einen von der ewigen Seligkeit und vom Herrn Pfarrer und von der Orgel, das war auch ein schöner Traum. Und einen von der Orgel, die doch eigentlich der Herr Pfarrer selbst war, und von der ewigen Seligkeit, in der es herging, wie beim Saufest. Das war ein unchristlicher, aber doch der schönste von den drei Träumen.
    Und als der dritte fertig war, packte Rosine alles, das Saufest und die Seligkeit nicht ausgenommen, in die ›Wertheimer‹

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