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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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ist doch kein König.«
    Der Zigeuner erwachte langsam und verfolgte sie wie ein Traumbild, tastend und heimlich. Plötzlich hielt er inne. Es fügte sich etwas ein in Tjanas schwebendes Wiegen. Ein leises, flutendes Lied, das längst in der Bewegung zu schlummern schien und das jetzt aus ihren Takten immer reicher und voller aufblühte. Die Tanzende zögerte. Alle ihre Bewegungen wurden langsamer, leiser, gleichsam lauschender. Sie blickte Kral an, und die beiden empfanden das Lied wie etwas Schweres, Lähmendes. Sie wandten unwillkürlich die Augen nach derselben Richtung und erkannten: Den Weg daher kam Prokopp. Als Silhouette hob sich sein knabenhafter Körper von der silbergrauen Dämmerung ab. Er ging wie unbewußt mit träumenden Schritten und blies das leise Lied auf einer schlichten Bauernflöte. Sie sahen, wie er näher und näher kam. Da sprang der Král vor und riß dem Jungen die Holzflöte von den Lippen. Der Prokopp umklammerte, rasch gefaßt, mit seinen mannhaften Händen die Arme des Angreifers, hielt ihn fest und ertrug mit fragendem Auge den heißen feindlichen Blick des Král. So standen die Männer einander gegenüber. Alles ringsum war ganz still, und der grüne Wagen schaute durch die trüb erleuchteten kleinen Fensterchen wie mit zwei traurigen, wartenden Augen ins Land.
    Ohne ein Wort gaben die Zigeuner sich plötzlich frei. Beide schauten nach Tjana hin. Der Kral mit glühendem Trotz, der junge Mann neben ihm mit leisem fragendem Gestehen im dunklen Auge. Unter den Blicken dieser beiden sank Tjana in sich zusammen. Einmal war ihr, sie müsse zu Prokopp gehen, ihn küssen und fragen: »Woher hast du das Lied?« Aber sie fand nicht die Kraft. Sie hockte am Wegrain, hilflos wie ein frierendes Kind, und schwieg. Ihr Mund schwieg. Es schwiegen ihre Augen.
    Eine Weile warteten die Männer; dann warf der Král dem andern einen feindselig auffordernden Blick zu und ging voran. Der Prokopp verharrte noch. Tjana sah das Abschiednehmen seiner traurigen Augen. Sie zitterte. Und dann wurde die schlanke, gelenke Gestalt immer schattenhafter, ungewisser und verlor sich auf dem Wege, welchen der Král gegangen war. Tjana hörte die Schritte in den Wiesen verhallen. Sie hielt den Atem an und lauschte in die Nacht:
    Es kam ein Wehen über die flachen Felder, warm und friedsam, wie der Atem eines schlafenden Kindes. Alles war klar und still; und aus der weiten Stille lösten sich die leisen Laute der jungen Nacht: Blätterrauschen in greisen Linden, ein Bach irgendwo und das schwere, reife Fallen eines Apfels ins hohe Herbstgras.

Alle in Einer
(1897)
    Wenn die Anne-Marie zu Werner ins Zimmer trat, legte der blasse junge Mann die Holzfigur, die er eben schnitzte, beiseite, stäubte die Spänchen von seinen Knieen, und schaute sie groß und voll an. Sein dunkles Auge schenkte ihr dann etwas von jener rührenden Dankbarkeit, mit der verwaiste Kinder und einsame Kranke der kleinsten Güte begegnen. Anne-Marie bemerkte wohl nichts davon; sie war es so gewohnt. Sie lächelte ihm zu, besah mit gespannter, kindischer Neugier die unterbrochene Arbeit.
    »Die heilige Jungfrau?« fragte sie und ließ ein paar krause Spänchen durch die zieren Finger knistern.
    Und oft nickte Werner: »Die heilige Jungfrau.«
    Es geschah ja wohl ab und zu, daß der heilige Johannes oder der heilige Laurenz für einen Kreuzweg oder eine Tornische bestellt wurden, manchmal auch der heilige Nikolas mit der Umschrift: »Als ein sonderbarer Patron in Wassergefahren bewahre uns«, oder gar St. Egyd, über welchem jedesmal stehen mußte: »Vor Krätzewurmfraß beschirm uns gnädig.« Aber das waren Bestellungen, und solche kamen dem kranken Werner selten zu. Er schnitzte meist nach eigenem Sinn, und da wurden es lauter Madonnen. Große, die mit stolzer Mütterlichkeit den runden gesunden Knaben des Heils in den reichumfalteten Armen trugen, und kleine hilflose, die, über die Mutterschaft erstaunt, im Begriffe schienen, die winzigen, segnenden Erlöser vor Müdigkeit irgendwo niederzusetzen; dann gab es solche, die hohe, breite Kronen hatten und die Hände ausstreckten in nicht enden könnendem Begaben, und noch andere, welche in verschämter Scheu die steifen Arme über der Brust kreuzten, und diesen waren die Lider gar schwer geworden von dem vielen, langen Augenniederschlagen. Endlich fanden sich jene, die angestrichen sein wollten; die bekamen rote Backen, sehr rote Lippen und sahen gleich viel gesünder aus und viel herrlicher. Aber alle

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