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Die Erzaehlungen

Die Erzaehlungen

Titel: Die Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Maria Rilke
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vertrauensseliger; denn sie sagte sich: Vertrauen macht Vertrauen, und einmal in der Dämmerstunde würde Klothilde gewiß die ›Wertheimer‹ holen. Aber die Zeit der Übersiedlung Klothildens rückte näher, und Rosinchen hatte schon ihre ganze Phantasie in lauter Vertrauen ausgegeben und war arm und hilflos wie ein Kind.
    Da kam ihr in einer ganz schlaflosen Nacht der Entschluß: Wir müssen beisammenbleiben. Und sie baute daran weiter: Wenn man so Tag um Tag neben einander lebt, mit einander lebt, mittags denselben Wein trinkt, dasselbe Salz ißt, denselben Hunger hat und sich in der Nacht gegenseitig im Schnarchen stört, muß doch aus zwei Menschen wenn auch nicht Eines, so doch ein symmetrisches Ganzes werden, dessen Hälften sich ohne Rest decken können.
    Rosinchen verkannte schon damals nicht die Schwierigkeiten eines solchen Nebeneinanderseins. Sie kannte die Strenge und Genauigkeit Klothildens, ihren zielbewußten Eifer, und verhehlte sich nicht, daß sie und ihre Neigungen manchen Kampf dagegen werden wagen müssen. Sie wußte in solchen klaren Augenblicken, daß sie sich oft auf müßigen Träumen ertappte, daß immer noch der Fliegende Holländer der König dieser Träume war, und daß sie den ganzen Tag im Hause sich die Füße wund und müde lief, ohne eigentlich was zu leisten, als ein paar Stühle von ihrem Platz zu rücken und ein paar Kleinigkeiten von der Kommode zu werfen. Aber sie tröstete sich damit, daß es ja, wenn sie erstmal beisammen wären, bis zur Enthüllung nicht mehr weitab sein könne, und daß sie nach längstens einem Jahr Abschied nehmen und beim Abschied noch einen Blick des Sieges in die weitgeöffnete ›Wertheimer‹ und einen Blick des Bedauerns auf die arme Klothilde werfen würde, die auch kein Geheimnis bewahren konnte. In Gedanken warf sie schon lange diese beiden Blicke. Und sie gewann eine Übung darin, welche der erträumten Szene ihre einstmalige dekorative Wirkung sicherte.
    Etwas zaghaft und mit dem bösen Gewissen in den gezwungen lächelnden Augen trug sie Klothilde den Plan vor. Die war weder erstaunt noch zögerte sie. Sie sagte einfach: »Ja, wenn du willst.« Sie hatte sie kaum angesehen dabei. Rosine aber schien es, als ob die Freundin hohngelächelt habe. Und ihr Plan wurde nur um so sicherer, denn sie wollte nun auch für dieses Hohnlächeln ihre Rache.
    Der Tag der Übersiedlung war da; Klothilde lief seit Morgengrauen aus einer Stube in die andere, erteilte den Leuten in ehernem Ton ihre Befehle, griff, wo es sein mußte, mit an, und Rosinchen glaubte mitzutun. Sie gebärdete sich wie ein Kind, dem der Strom das Schiff treibt, und das dennoch glaubt, mit eigenen Rudern vorwärts zu kommen. Wiederholt stieß sie in ihrer ziellosen Hast im Flur oder auf der Treppe an Klothilde. Endlich packte sie diese und sagte halb unwillig: »Du bist den Leuten nur im Wege. Ich muß mit angreifen und will das nicht aus dem Auge lassen. Halt mirs einstweilen.«
    Schon war sie vorbei. Rosinchen stand wie im Traum und fühlte an ihrer Rechten etwas seltsam Schweres, das sie in die Erde zu ziehen drohte. Es war die ›Wertheimer‹. Sie zitterte am ganzen Körper vor Schrecken und Erregung. Sie flüchtete mit dem Kleinod in eine dunkle Ecke des Flurs. Dort fand sie einen ausgemusterten Stuhl, auf den sie sich sachte setzte und von dem aus sie die schwarze Kassette zu ihren Füßen betrachtete. Manchmal schien ihr, als klaffte der Deckel leise. Sie bückte sich hastig und konnte sich von der Widerspenstigkeit des Schlosses überzeugen.
    Wie ein Inder vor seinem Fetisch hockte sie vor dem schwarzen Geheimnis: mit über den Knieen gefalteten Händen und großen lauernden Augen. Sie vertraute den Winken des Schicksals und hatte ein tiefes, romantisches Verständnis für seine geheimen Absichten. Seit sie die ›Wertheimer‹ in der Hand gehalten hatte, wußte sie: Es war ihre Mission, die Tiefen dieses Eisenbergwerks zu erforschen. Und sie fand diese Mission ebenso wichtig, wie die Lichtung des Nilquellengebiets oder die Versuche über das animale Leben der Sporenpflanzen. Ein heiliger Eifer, eine heldenhafte Entschlossenheit überkam sie, nicht eher zu rasten, bis dieses Schloß, nicht mit Gewalt, mit List und Klugheit in ihrem Besitze sei. Sie fühlte sich ordentlich bedeutend werden und wachsen mit ihrer Aufgabe. So, mit großer Hoffnung und großer Entschiedenheit kam sie in Karbach an und ließ das schwarze Geheimnis nicht früher los, als bis es seinen dauernden Platz

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