Die Erzaehlungen
in der neuen Wohnung gefunden hatte.
Rosinchen gehörte zu denjenigen Menschen, die sehr liebenswürdig sein können, wenn sie irgendwas erreichen wollen. Dazu kam, daß diese Situation ganz neu war in ihrem Leben. Sie hatte ein Geheimnis, und dieses Geheimnis war ein Geheimnis. Das war ja an sich schon ein ganzer Roman oder wenigstens wie das vorletzte Kapitel davon. Sie fühlte sich auf ihrem Posten wie ein Ambassadeur, der unter Wilden irgendwas auskundschaften soll, daran das Wohl ganzer Staaten, Weltkrieg oder Weltfrieden hing. Und je nachdem sie das besonders schlau und gründlich erforschte, fielen die Lose. So schien in den ersten Jahren das Zusammenleben mit Rosine hell, als hätte die Sonne selber ein Zimmer in dem Hause gemietet. Unter ihren Scheiteln wohnte auch nicht mehr die Wahnvorstellung jener schwarzen eisernen Kiste; Rosinchen wußte bloß dunkel von einem großen Zweck der sie hier festhielt, und daß sie immer lächeln mußte, um ihn zu erreichen. Das war ja schließlich nicht gar so schwer.
Dabei bekam sie eine große Achtung vor sich selbst, die je nach ihrer Stimmung, ihrer Verdauung und dem Wetter in Staunen oder Bewunderung über das eigene Benehmen Ausdruck fand. Sie brachte es über sich, in Erfüllung ihrer hohen Mission Jahre neben Klothilde zu leben, ohne sich auch nur mit einem Blick zu verraten, ohne jemals neugierig zu scheinen und ohne zusammenzuzucken, wenn bei einer Gelegenheit die ›Wertheimer‹ aus dem Alltagsversteck auftauchte. Die ersten Male schielte sie wohl ein wenig über die vorgehaltene Zeitung; dann aber schämte sie sich dessen und machte sich in solchen Augenblicken meistens in einer sehr fernen Ecke oder in einer andern Stube zu tun. Mein Stunde kommt auch noch mal, vertraute sie. Aber in einer schlechten Nacht, als draußen die Katzen schrieen wie Kinder, die einer würgt, und als die Regentropfen monoton klopften, wie die Totenwürmer im alten Eichenschrank, kamen ihr die ersten leisen Zweifel an dem Erfolge ihrer bisherigen Taktik. Sie stand am Morgen blaß und müde auf, und die Brust schmerzte sie, als wäre die ganze Nacht die ›Wertheimer‹ darauf gelegen. Sie begann beim Frühstück zaghaft zu klagen. Klothilde, der das fremd war an ihr, war aufrichtig besorgt und erleichterte durch ihre Teilnahme der Freundin sehr, in das neue Kampfsystems, auf dessen Fahne eine gewisse schwärmende Schwermut stand, hineinzuwachsen. In wenigen Wochen war die ganze alte Rosine abgelegt, und eine neue elegische Rosine war an ihre Stelle getreten, die durch die Stuben ging, als ob sie jemanden zu wecken fürchtete, und den Wein so verdünnt trank, daß die Monatsrechnung viel weniger ausmachte als vorher. Rosinchen hatte für ihre eigene Person nur gewonnen. Die Hausgenossin fürchtete, daß sie sie zu sehr mit Arbeit überhäuft hätte, und suchte ihr nun möglichst viel abzunehmen. Dadurch fand Rosinchen wieder manche stille, pflichtfreie Stunde, und jede solche Stunde hatte eine leise Tür, zu welcher ›Er‹, der Fliegende Holländer, allein den Schlüssel besaß. Er kam jetzt viel öfter, der Traum von ihm. Sie dachte dann stets, wie innig er bei der gleichen Erinnerung weilen mochte. Dann saß er wohl, als gelehrter, vielleicht sogar als berühmter Mann (man konnte damals noch nicht wissen, was er eigentlich zuletzt werden würde), in seiner dunklen Stube, deren Wände wie aus lauter großen Büchern gebaut waren, und suchte nach dem Stückchen rosa Band, dem einzigen Andenken, das er von ihr bewahrt hatte. Und sie sah, wie er es küßte, und fing im Traum die große, kostbare Mannesträne auf, die wie eine Perle durch die Wellen des breiten Bartes rollte. Er weint, er weint um sie. Und sie wurde immer ganz gerührt über ihn und sich und Klothilde, die von dem ganzen Schicksal wußte; nur den Namen hatte sie ihr verschwiegen. Da gab es also im äußersten Fall noch etwas zu vertrauen. Wenn sie einmal in einer grauen Zwielichtstunde mit diesem heiligen Geständnis herausrückte, dann konnte Klothilde nichts mehr verbergen und mußte auch ihrerseits alle Herzen und eisernen Kisten mit einem einzigen Schlüssel aufsperren.
Aber sie kam rasch von der Idee ab; denn ihr fiel ein, daß Klothilde ›ihn‹ ja gekannt hatte, freilich ganz flüchtig und ohne etwas zu ahnen. Und sie fühlte, daß sie dadurch den oft so prächtig gezeichneten Geliebten in dem Empfinden der Freundin entzaubern und zum nüchternen Erinnerungsbild erniedern würde. Dieses Erinnerungsbild
Weitere Kostenlose Bücher