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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Gaspard, ehe er die Tasse an die Lippen führte. Er hatte mit Selbstsicherheit gesprochen und nicht gelogen, denn was wusste er über das Leben von Paris oder Frankreich, was verstand er von der rätselhaften Politik? Das Bordell hatte ihn von der Welt abgeschirmt. Seine Stimme klang sicher, die Comtesse antwortete: »Das hat das Reisen für sich, es erlaubt uns, das eigene Land zu vergessen und dafür andere kennenzulernen. Der Ärger, den es anderswo gibt, erscheint uns wie eine Folklore, er dient uns zur Zerstreuung, und wir vergessen dabei ganz, was bei uns passiert!« Sie sprach wie eine Forschungsreisende, während es für sie bereits ein Abenteuer war, vor ihrer Haustür in eine Droschke zu steigen, um sich aufs nahe Land zu begeben. »Dies zumindest sagen die Reisenden, vielleicht widersprechen Sie mir? Mir hingegen geht nichts über Paris, und wie ich immer sage: Was will man in die Ferne schweifen, wenn man hier die ganze Vielfalt findet, die es anderswo geben kann!« Sie gefällt sich darin, sich selbst zu zitieren , dachte Gaspard, als besäße sie weiß Gott was für eine universale Wahrheit . »Sie haben Recht«, sagte er und nahm einen weiteren Schluck, indem er die Gesten des Comte imitierte, der zusammengesunken auf seinem Sofa saß. Aus seinem Hemdkragen schaute ein Büschel angegrauter Haare, das bis zu dem geröteten Hals aufragte. Gaspard überkam beim Anblick dieses Details ein unüberwindlicher Ekel vor diesem leicht abgespannten, ältlichen Mann mit seinen schütteren Haaren, der nicht aufhörte, unter seinem Gewand die Festigkeit seiner Arme und Schenkel zu prüfen. Der Hals der Comtesse verfärbte sich. Der Tee war heiß, schmeckte nach Herbstlaub, nach regennasser Erde, nach Quimper. »Es ist eine Schande«, sagte die Comtesse. »Dieser Calas soll seinen Sohn umgebracht haben. Eine Protestantenfamilie, versteht sich. Man hat ihn bei lebendigem Leibe gerädert, erwürgt und schließlich verbrannt. Und das in Toulouse, vor aller Augen. Wahre Barbaren sind das in der Provinz.« Sie pustete in ihre Tasse. Der Mund zog sich zu einem Nadelöhr zusammen und blies den Bernstein des Tees an den Fayencerand. »Sind Sie Protestant?«, fragte sie mit einem Ausdruck, der zwischen der Angst, einen Fauxpas begangen zu haben, und dem Vorwurf schwankte, den sie sich machen würde, falls er es war. Er hatte beim Betreten des Salons eine Darstellung der Passion gesehen, so lachte er, als zweifelte die Comtesse an einer Offenkundigkeit: »Ich bin katholisch.« Seine Tasse klirrte gegen den Teller, während die Hausherrin einen selbstgefälligen Seufzer ausstieß. »Ich kann«, sagte sie, »Gewalt nicht ausstehen, ich würde keiner Fliege etwas zuleide tun. Nicht wahr, Charles? Sagen Sie es ihm, erzählen Sie doch, wie Sie letzte Woche die Spinne aus meinem Zimmer befreien mussten!« Die Anekdote verzückte sie, als hätte es sich um eine persönliche Leistung gehandelt, die sie noch einmal zu durchleben schien, während sie ihren Gemahl bat, davon zu erzählen. Dieser aber sagte nur: »Ich könnte die Sache nicht so komisch wiedergeben wie Sie«, und die schmerzende Trägheit seiner Stimme brachte die Comtesse zum Verstummen. »Nun ja«, sagte sie und wechselte das Thema, verärgert über den Unwillen ihres Mannes, »es braucht eine Gerichtsbarkeit, um die Gauner, die Mörder, die Päderasten und anderen Sittenstrolche zu bestrafen! Aber selbst zur Justiz zu greifen, aus religiösen Gründen, das nein!« Gaspard sah ein Aufblitzen im Blick des Grafen, der sich auf den Henkel der Teekanne heftete, das Rosa seiner Wangen, als würde ihn schon allein das Wort Päderast verraten. Seine Frau schwang sich inmitten ihres Salons zum Richter auf und zeigte mit dem Finger auf ihn. Die Prüderie der Comtesse, die sich über schlüpfrige Anekdoten des Hofs amüsierte, schien ihre Grenzen dort erreicht zu haben, wo das geheime sinnliche Leben ihres Mannes anfing, was Gaspard ein Lächeln entlockte, wusste er doch, dass sie am Boden zerstört wäre durch das, was für ihn nunmehr eine Offensichtlichkeit war. »Habe ich nicht Recht?«, fragte sie laut, gereizt angesichts der mangelnden Unterstützung. »Wahrscheinlich, Madame«, antwortete Gaspard, »aber ich bezweifle, dass die Misshandlungen dieses Bürgers etwas anderes als die Befriedigung des Volkes zum Zweck haben. In diesen Praktiken ist keine Spur Menschlichkeit mehr vorhanden.« Die Worte, die Etienne bei der Hinrichtung vor dem Châtelet geäußert hatte, fielen

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