Die Erziehung - Roman
Er dachte an den Prunk des Salons, die Überfülle der Speisen, die Stattlichkeit der Gäste, die intime Atmosphäre, der das Kaminfeuer und der Glanz der Kandelaber eine raffinierte Note verliehen und die sich für Vertraulichkeiten und gehobene Gespräche anbot. Gaspard war dabei gewesen bei dieser Mahlzeit, hatte diesem Kreis angehört, und man hatte ihn für angenehm befunden. Er hatte Adeline d’Annovres gefallen, davon war er überzeugt, ebenso der Comtesse, die ihn mehr aufgrund seiner Verbindung zu Etienne als seiner Zungenfertigkeit wegen schätzte. »Ein echter Prinz«, sagte der Schneider, und trat einen Schritt zurück, um ihn zu betrachten. Gaspard lächelte, sicher, in seinem Spiegelbild den Ausdruck von Bedeutsamkeit zu erkennen. Als er die Wildlederhandschuhe überstreifte, sah er Etienne vor sich, wie er in der dämmerigen Diele von Billods Atelier stand. »Ja«, wiederholte er, »ein echter Prinz.«
Er schickte der Comtesse einen Blumenstrauß und sprach am späten Nachmittag bei ihr vor. Als er verlangte, angekündigt zu werden, bat man ihn, in einem der Vorzimmer einen Augenblick zu warten. Sobald sich die Tür hinter dem wallenden Kleid der Dienerin schloss und er sich allein in der tadellosen Ordnung eines Sofas, eines Regals und einem schweigenden Heer von Nippsachen wiederfand, schmolz seine Sicherheit dahin. Bald schien ihm, als wäre bereits eine Stunde vergangen und dass dieses Warten viel zu lange dauerte, um nicht verdächtig zu sein. Bestimmt konnten ihn die d’Annovres nicht mehr einordnen und wunderten sich über diesen unerwarteten Besuch, oder sie empörten sich, dass er einfach so bei ihnen hereinschneite, da sie ihn schließlich eher aufgrund einer Beziehung als aus Interesse eingeladen hatten. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und versuchte sich davon abzubringen, die Flucht zu ergreifen, dachte, dass danach kein Zurück mehr möglich wäre. Adeline d’Annovres hatte Interesse für ihn bekundet, und er hoffte, dass sie da war. Ich könnte , dachte er, eine Krankheit vorschützen, oder besser noch eine Reise. Ja, eine Reise, das würde zumindest die Neugier wecken. Aber während er versuchte, ein paar exotische Anekdoten zusammenzustellen, merkte er, dass er unfähig war, sich ein Leben außerhalb der Grenzen Frankreichs auszumalen. Seine mangelnde Einbildungskraft führte ihn immer wieder in die schmutzigen Wände des Freudenhauses zurück, zu den vollen Formen von Emmas Körper, an die er sich geschmiegt hatte, und dem Gedanken, er sei nicht mehr wert, als zum Vergnügen anderer Männer verkauft zu werden. Er belauerte unruhig die Tür, und der Raum kam ihm feindselig vor. Hier hatte sich seit Urzeiten nichts mehr bewegt. Und doch war es unmöglich, in der Ansammlung der Keramik- und Kristallfigürchen das geringste Staubkörnchen zu finden. Es war nur ein Durchgangszimmer, zum Warten bestimmt. Die Truppe kunstvoll bemalter Pferde und die Bibliothek, in der die Bücher sich mit künstlicher Präzision aneinanderreihten, waren dazu da, das Begehren und die Achtung der Besucher zu schüren. Eine Reproduktion an der Wand zeigte eine Jagdszene im Wald unter einem stürmischen ländlichen Himmel. Zu Fuß eines Pferdes mit glänzendem Fell war eine Meute Hunde in ihrem Lauf erstarrt. Das Bild rief nichts in ihm hervor außer dem Gedanken, dass man auf dem Land edlen Beschäftigungen nachging. Dabei musste das Gemälde ein Modell an Raffinement sein, wenn man es für würdig befunden hatte, diesen Raum zu zieren, wo es die ganze Wand einnahm. Es langweilte ihn so sehr, dass er gezwungen war, den Blick abzuwenden. So geschmacklos wie das Bild kam ihm die gesamte Einrichtung vor. Gaspard hatte befürchtet, nicht empfangen zu werden, einen schlechten Eindruck zu machen, und diese überladene, überspitzte Ästhetik vergrößerte sein Unbehagen noch. Er wunderte sich plötzlich über den erhabenen Eindruck, den er von seinem Besuch bei den d’Annovres zurückbehalten hatte. Als hätte er etwas Beschämendes, Triviales entdeckt, das so gar nicht mit der Vorstellung zusammenpasste, die er sich von der Familie gemacht hatte, bekam seine Wertschätzung Risse, und es schien ihm, dass dieses Gemälde eine Intimität enthüllte, die sich in seinem Geist auskristallisierte und ihn zwang, seine Achtung noch einmal unter einem neuen Blickwinkel zu überdenken. Natürlich war sich Gaspard der Überlegenheit des d’Annovreschen Palais über das Freudenhaus bewusst. Hier gab es nichts als
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