Die Erziehung - Roman
ergriff und die Comtesse ins Haus geleitete.
Adeline d’Annovres war bei einer Cousine zu Besuch. Da Gaspard sich zum Gehen anschickte, nahm man ihre Abwesenheit als Grund, ihn für Ende der Woche zum Essen einzuladen. Als die Comtesse in der Küche verlangt wurde, hielt er den Moment für gekommen, sich zurückzuziehen. Die Stammgäste würden bald eintreffen. Man forderte Gaspard nicht zum Bleiben auf, worüber er sich ärgerte, aber wieder sagte er sich, dass es eben Zeit brauchte, um in diese Gesellschaft aufgenommen zu werden, und tröstete sich damit, dass der Comte ihn zur Tür begleitete. Als er die nötigen Höflichkeitsbezeugungen hinter sich gebracht hatte, folgte er dem Mann durch den dämmrigen Flur. War es möglich, dass dieser während seines Besuchs noch weiter zusammengeschrumpft war? Auf einer Kommode standen Gaspards Blumen, gestrandet auf dem Grund der Langeweile, blähten den Raum zwischen den Wänden auf in einem Versuch, die Leere zu füllen. Unter einer schief aufgesetzten Perücke ragte der Schädel des Comte hervor. Seine kahler Kopf glänzte im Halbdunkel, seitlich machte die talgige Haut einem Haarkranz Platz, die von einem Ohr zum anderen lief. Der Mann hatte es nicht sehr eilig, dass Gaspard ging. Er zwang ihn, langsamer zu gehen, versuchte seinen Körper dem des Gastes anzunähern. Vor der Kommode blieb er plötzlich stehen, hob die Hand, um eine der Blumen des Straußes aufzurichten, die den Kopf hängen ließ. Gaspard prallte gegen ihn, stieß mit dem Oberkörper an seinen Rücken, das Gesicht in seinen Nacken. Beide stotterten halblaut, standen einander im Weg, schützten Verlegenheit vor. Ihre Kleider streiften sich, und in die geruchliche Plattheit des Bouquets mischte sich ein fleischliches Miasma, eine Spur Moschus, ein Hauch von Begierde, die vom Comte ausgingen. Es gab keinen Zweifel, dass er dem dringenden Bedürfnis nach einer Berührung erlegen war, nach der er sich sehnte, seit Gaspard das Haus betreten hatte, und deren Alibi nun eine geknickte Blume war. Wie Gaspard eine Stunde zuvor auf den Stufen zum Garten die Lust unterdrückt hatte, die Comtesse zu ohrfeigen, musste er sich nun zurückhalten, ihren Mann brutal von sich zu stoßen. In der Dunkelheit des Flurs, wo jegliche Formen nur zu erahnen waren, bekam der Schattenriss seines Gesichts die Züge sämtlicher Kunden. Der Atem strömte aus seinem Mund wie Rauch aus einem Weihrauchgefäß, ein unerträglich gewöhnlicher Geruch. Seine Haut strahlte eine Lust aus, die die Atmosphäre auflud wie feuchter warmer Wind einen Sommerabend. »Ich muss mit Ihnen reden, Monsieur«, murmelte Gaspard leise, um sicher zu sein, nicht von anderen Ohren verstanden zu werden. Die Augen des Comte lauerten auf die Salontür. Atemlos antwortete er: »Um einundzwanzig Uhr, Rue de Richelieu, Sie werden vor den Schranken meine Droschke sehen«, und streckte, als wäre nichts gewesen, höflich die Hand aus.
V
LANGEWEILE
Ein neuer Mann marschierte durch das jadegrüne Dämmerlicht der Stadt. Diese Stadt, die Gaspard so lange feindlich gesinnt war, war durch die Worte des Comte d’Annovres zu einer leichten Eroberung, einer jener lasziven Liebeleien geworden, die den Stolz aufpolieren und neuen Schwung verleihen. Während er ging, schien sie ihm verführerisch, pittoresk. Der Morgen, an dem er Emma verlassen hatte, war jetzt so weit weg, dass nichts ihm absurder, seiner unwürdiger vorgekommen wäre, als ins Bordell zurückzukehren. Während er sich Montmartre näherte, empfand er das köstliche Gefühl einer Veränderung, das Gefühl, mit Paris eine Einheit zu bilden, in die Stadt, in ihre Straßen, in ihre beste Gegend zu gehören. Die Details, für die er die Stadt zuvor gehasst hatte, riefen nun seine Sympathie hervor. Er lächelte über Szenen und Bilder, die nur Langweile in ihm erzeugt hatten: der Schlamm der Straßen, ein kleines Mädchen mit zerfurchtem Gesicht, das einen Welpen am Schwanz zog. Wie niedlich , dachte er und verlieh insgeheim seiner Stimme den Tonfall der Comtesse, kokettierte vor sich selbst. »Wie niedlich«, wiederholte er laut. Die Worte fühlten sich echt an in seinem Mund. Gaspard hob den Kopf zu dem bunt gemusterten Himmel, knöpfte sein Hemd auf und zog die rauchschwangere Luft ein. Wie gut es ist , dachte er, in Paris zu sein! Wie charmant die Stadt ist! Dieser Charme war in Wirklichkeit weniger der Folklore der Hauptstadt geschuldet als dem Gefühl, sie im Griff zu haben. Neue Horizonte taten sich auf,
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