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Die Erziehung - Roman

Die Erziehung - Roman

Titel: Die Erziehung - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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eine größere Sicherheit wohnte ihm inne. Seine Ambitionen schienen kurz vor ihrer Erfüllung, ein Weg zeigte sich, befreit von allen Hindernissen. Wirkte er nicht glaubwürdig in seinem Adelsgewand? Einzig die Wappen auf der Jacke fehlten. Genau diese galt es sich im Übrigen anzueignen, auch wenn er nicht wusste wie. Die Rückkehr Gaspards und sein Besuch bei den d’Annovres würde mit Sicherheit Verdacht erregen, früher oder später würde er seine Stellung rechtfertigen müssen, da er nicht die Absicht hatte, wie Louis zu fliehen. Vielmehr wollte er sich Paris zu Füßen legen. Los, los, sagte er sich, wozu sich schon jetzt beunruhigen, beglückwünschen wir uns zu diesem Sieg und nutzen wir das Rendezvous, das uns erwartet . Es war berauschend, was das Leben an einem einzigen Tag an Möglichkeiten und Überraschungen zu bieten hatte. Die Dinge konnten innerhalb weniger Stunden eine völlig andere Wendung nehmen. Noch immer im Gehen warf sich Gaspard für einen Moment seine Willenlosigkeit vor, wenn auch mit Nachsicht, warf sich vor, dass er nicht früher gehandelt hatte, nicht schon längst geflüchtet war. Emma hatte, genau wie Etienne, in ihm diesen Ehrgeiz zugunsten einer ausschließlichen Beziehung ausgelöscht, und er hatte sich von ihr auffressen lassen. Er verachtete sie nun dafür, dass sie ihn gebremst hatte, war sie doch zum Teil verantwortlich für das Übel, das ihm zugestoßen war. War es nicht sie gewesen, die ihn an der Hand genommen hatte? Hatte sie ihm nicht ihr Bett angeboten für eine Nacht, auf die viele weitere, genauso schändliche folgen sollten? Seine Schritte, durch die Reibung des Leders in seinen Schuhen schmerzhaft geworden, klapperten auf das Pflaster und hämmerten seinem Geist einen Groll gegen Emma ein. Es ist ein wenig ihre Schuld , dachte Gaspard. Und beim nächsten Schritt, Das ist ganz entschieden ihre Schuld . Je näher er Montmartre kam, desto weiter weg rückte die Freundschaft, das gegenseitige Verständnis, das ihn mit der Hure verbunden hatte. »Ich bin ganz einfach betrogen worden«, sagte er, um die Monate der Verwahrlosung zu rechtfertigen. Louis hatte Recht gehabt zu gehen, und Gaspard tat gut daran, seinem Beispiel gefolgt zu sein. Ist sie ein schlechter Mensch? , überlegte er und gab seinem Ressentiment neue Nahrung, und dann: Die Menschen können nur enttäuschen . Das war es, was er dachte, denn ganz abgesehen von Emma und ihren angenommenen Verrat, war es Gaspard nie gelungen, jemanden an sich zu binden, ohne dass dieser sich bald wieder aus dem Staub machte oder ihm einen Vorwand lieferte, Reißaus zu nehmen. Er hatte für das menschliche Geschlecht nicht mehr das geringste Mitgefühl, gründete lediglich seine Hoffnung auf die Menschen, eines Tages emporzukommen, gab sich doch die Rasse genau diesem Spiel hin: aufsteigen, erklimmen, erdrücken, schlagen, enteignen, an sich reißen, herrschen. Die Passanten, denen er begegnete, Arbeiter, Händler oder Soldaten, kamen ihm jämmerlich vor, sie gehörten zu jenen, die nach nichts strebten, die dazu bestimmt waren, besiegt zu werden und sich damit zufriedenzugeben, die aufgrund ihres Standes und ihrer Geburt zu kämpfen aufhörten, sobald sie auf der Welt waren, so wie ihre Eltern vor ihnen. Die Menschen sind nichts als Sprossen auf einer Leiter, man muss den Fuß auf sie stellen, um aufzusteigen , sagte sich Gaspard. Er war stolz auf seine Metapher. Wenn ein gut gekleideter Mann oder eine Frau vorbeiging, dachte er: Da haben wir ein hübsches Sprösschen. Der gibt einen guten Schritt ab. Auf die da kann man ruhig den Fuß stellen, oder Dieser hier ist nicht viel wert, der hält nicht stand , machte sich einen Spaß daraus zu bestimmen, welche der Passanten seinem Aufstiegswunsch dienlich sein konnten. Der Hunger quälte seinen Magen, er hatte nichts mehr zu sich genommen seit dem Morgen, seit diesem vor Jahrhunderten gewesenen Morgen. Ihm wurde schwindelig, der Geruch von Suppe füllte seinen Mund mit Speichel. Man müsste es einrichten, dass der Comte eine Mahlzeit und eine Nacht bezahlte, es kam nicht in Frage, die Erniedrigung einer weiteren Nacht im Dreck eines Bordells zu erdulden. Bei diesem Gedanken sah er den Keller des Ateliers vor sich, das Zimmer in der Rue du Bout-du-Monde, und ein Schauer durchfuhr ihn, ein Gefühl, als wäre ein Insekt unter sein Hemd gekrochen und liefe seine Wirbelsäule hinauf.
    Er hatte einen letzten Sou in der Tasche. Müde vom Gehen nahm er eine Droschke, die ihn zum

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