Die Erziehung - Roman
der Welt zurückgestoßen, erniedrigt und entmenschlicht worden war. Sie wusste nicht, was er durchgemacht hatte, während sich Gaspard ohne Schwierigkeiten den Alltag und die Unbekümmertheit der d’Annovres vorstellen konnte, die, zurückgezogen in ihrem Haus, nur eine einzige Sorge hatten, die Zusammenstellung ihrer Diners und die Zeitplanung der in Paris abgehaltenen Salons. Wenige Stunden zuvor hatte Gaspard neben Emma auf dem wanzenverseuchten Bett gelegen. Dieser Gedanke empörte ihn – nicht um seiner selbst willen, obwohl er Emma verlassen und für seine Aufstiegswünsche ihr Eigentum an sich gerissen hatte –, vielmehr wegen der Privilegien dieser Familie, ihrer Ignoranz dessen, was sein Leben war, und nicht zuletzt wegen ihrer Verbindung zu Etienne de V., durch den sein Debakel seinen Anfang genommen hatte.
Sein Warten im Salon, die paar Schritte hinter der Comtesse her hatten genügt, um die d’Annovres von dem Podest zu stoßen, auf das Gaspard sie gestellt hatte. Er empfand fortan für sie und ihren Wohlstand eine Begierde ohne jeden Skrupel. Gaspard schüttelte seine Wertschätzung ab und betrat mit eroberungslustigen Schritten den großen Salon, streckte die Arme dem Comte entgegen, der auf einem Sofa vor sich hin döste, als seine Gemahlin ausrief: »Schauen Sie, wer uns besucht? Ist das nicht nett? Ist das nicht süß? Ich weiß nun, woher diese schönen Blumen kommen. Ah, warum erweist man mir nicht öfter Aufmerksamkeiten dieser Art!« – »Na«, antwortete Gaspard, »ich bin sicher, Sie werden von Ihren Freunden gebührend verwöhnt.« Sie war entzückt, glich für einen Augenblick wieder der Frau, die er in Erinnerung behalten hatte. Dann ergriff Gaspard die Hand ihres Gemahls, der sich zu seiner Begrüßung erhoben hatte und ihm entgegengekommen war, und drückte sie mit Bestimmtheit. Gaspard war sich sicher, hinter der apathischen Gelassenheit einen bestimmten Ausdruck zu lesen, der ihn nicht täuschte, als hätte er, geschult durch sein Herumirren in den Niederungen von Paris, diesen Blick entziffern gelernt. Ein Blick, der von dem Moment, da Gaspard den Raum betreten hatte, bis zu ihrem Händedruck über seinen ganzen Körper gewandert war, um schließlich auf seinem Gesicht innezuhalten. Die Begierde war augenscheinlich, zeigte sich durch die Bewegung einer Netzhaut, die nicht zur Ruhe kam, alles auf einmal verschlingen wollte. Er kannte sie, es war genau dieselbe Begierde, die im Blick der Freier lag, den er ständig auf sich zu erdulden hatte. Für Gaspard stand in kürzester Zeit fest, dass der Comte d’Annovres ihn vor den Augen seiner Gemahlin begehrte, die genauso wenig davon mitbekam wie Gaspard bei ihrer ersten Begegnung, als er noch nicht vertraut war mit dieser körperlichen, unausgesprochenen Sprache, die es zwei Wesen mit derselben Neigung erlaubte, sich zu erkennen. Der Comte glaubte, nichts von seiner Besonderheit und seinem Angezogensein durchscheinen zu lassen. Er sah in Gaspards Entschlossenheit eine Gewandtheit, die Bestätigung eines ungestümen Charakters, ohne zu argwöhnen, dass er weit über die Vertraulichkeit eines Händedruckes hinaus verstanden worden war. Gaspard, sich der Überlegenheit bewusst, die ihm dieses plötzliche Wissen über den Comte verschaffte, sagte sich, während sie alle drei auf die Sofas zusteuerten, auf denen ihnen die Comtesse ihre Plätze gewiesen hatte, dass es einfach wäre, diesen Mann zu manipulieren. Das Polster des Sofas empfing ihn freundlich. Gab es etwas Angenehmeres als den Komfort dieses Sofas, auf dem er sich am liebsten ausgestreckt hätte? Eine Dienerin schenkte den Tee ein, und sie konnten einander an den Bewegungen der Teekanne vorbei beobachten. Um einen guten Eindruck besorgt, hielt er sich aufrecht, nur den Kopf leicht geneigt, darauf bedacht, keinen Tropfen auf das Spitzendeckchen fallen zu lassen, schnupperte die Rauchkringel, die sich durch die Luft schlängelten und der Atmosphäre des Salons ein wenig Berauschung verliehen. »Haben Sie schon die Nachrichten gelesen?«, fragte die Comtesse. Die Dienerin zog sich zurück, der Raum zwischen ihnen wurde intimer. Gaspard griff nach seiner Tasse. Seine Hand zitterte leicht. Hatte der Comte es bemerkt? Seine Augen wanderten immer wieder zu Gaspard, der sich durch diese peinlich genaue Betrachtung auf dem hübschen Sofa entblößt fühlte. »Ich bin eben erst angekommen. Die Reise war lang, ich weiß überhaupt nicht mehr, was auf der Welt vor sich geht«, antwortete
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