Die Erziehung - Roman
Stadttor brachte. Vor den Schranken wurden die Zölle und Steuern erhoben, und ringsum blühten die Betrügereien. Auch zu dieser Stunde wimmelte es noch von Aufschneidern, Spitzeln und Hungerleidern auf der Suche nach einem Profit. Was für eine komische Gegend für ein Rendezvous, dieses Montmartre , dachte Gaspard, nachdem er ausgestiegen war. Er konnte sich nicht erinnern, sich seit seiner Ankunft in Paris so weit hinausgewagt zu haben. Der Hügel schlummerte unter einem fliederblauen Leichentuch vor sich hin. Die Luft war hier erträglicher trotz der Miasmen aus den Sümpfen weiter unten. Die Seine umfing die Anhöhe mit ihren Armen. Als wäre dieser Schlammgeruch eine Warnung gewesen, wurde Gaspard wieder von Unsicherheit eingeholt, doch er zwang sich, den Blick vom Fluss abzuwenden und sich auf die Formen der baufälligen Häuser zu konzentrieren. Ein Stück weiter weg war die Luft von den Ausdünstungen der notdürftigen Pariser Abwasserkanäle erfüllt. Der Geruch erinnerte ihn an die Jauche, die sein Vater auf den Feldern verteilte und die in der Abendfrische in jede Pore eindrang. Die Auswürfe der Schornsteine, die aus den Dächern ragten, blähten sich vor dem Blasslila des Himmels. Es war kühl geworden, Gaspards Atem zeichnete sich in der Luft ab. Da er zu früh war, verweilte er auf den Straßen von Montmartre, in Wahrheit ländliche, holprige Wege, die mitten in Feldern endeten. Da haben wir einen, der nicht Gefahr laufen will, erkannt zu werden , dachte Gaspard über den Comte d’Annovres. Was er von den Bewohnern durch die öligen Fenster mitbekam, war sehr dörflich, vulgär gar. Er machte sich Sorgen, er könnte sich in der Dunkelheit Schuhe und Hose beschmutzen, und als er zwei Frauen mit Wäsche unter dem Arm vom Waschhaus zurückkehren sah und sich beide offensichtlich wunderten, dass sich ein Adeliger in diese verschlungenen Gässchen verirrt hatte, fühlte Gaspard, wie sich seine Brust zusammenzog. Setzte er sich nicht der Gefahr aus, überfallen zu werden? Der Groll gegen den Comte kehrte zurück und drängte seine Angst in den Hintergrund. Durfte Gaspard nicht mit Fug etwas anderes erwarten, meinte der Comte etwa, er würde sich mit einem Gastzimmer in diesem finsteren Nest zufriedengeben? Dann hätte er sich aber getäuscht über die Bedingungen ihres Rendezvous, die er gleich klarstellen wollte. Er dachte an das Paar d’Annovres, wie die beiden über den Gartenweg spazierten, sich gegenseitig stützten, sich über die Arbeit ihrer Gärtner entzückten. »Was für ein erbärmlicher Mann«, zischte Gaspard, während er unter der Wachsamkeit der Gardisten die Schranken erneut passierte. Er kehrte in die Rue Richelieu zurück, die zum Palais-Royal hinunterführte, und spürte, wie bei diesem Gedanken sein Herz laut klopfte und ihn die Welle von Sicherheit und Gewissheit erneut durchströmte. Er war so nah, es war eine Sache von ein paar Schritten, auch wenn diese Reichweite nichts garantierte. Er schauderte vor Kälte, vor Hunger, aber auch vor Hoffnung, und die Nachtluft fühlte sich köstlich an. Die Droschken führten, eine dicht hinter der anderen, in einem Konzert von Hufschlägen und Kutscherschreien die Nachtschwärmer aus. Gaspard beobachtete die Prozession reglos, überlegte, wie er den Wagen des Comte in dieser Kohorte erkennen sollte, doch gerade als er sich die Frage gestellt hatte, hielt neben ihm eine Kutsche, und der Schlag öffnete sich. Er stieg ein, und der Wagen setzte sich wieder in Bewegung. Der Comte war da, noch grauer und fahler in der Dunkelheit der Kabine. Sein Geruch schien an den dicken Vorhängen zu haften. Die Wärme des Armes, der Gaspards berührte, löste Ekel in ihm aus. Über seine Beine war eine Wolldecke gebreitet, und er hob sie ein wenig, um sie auch Gaspard anzubieten, ihm vorzuschlagen, diesen Brutofen mit ihm zu teilen, in dem die Glut seines Fleisches schmorte. Gaspard nahm mit einem gezwungenen Lächeln an, gewöhnt an diese Art von Berührungen, bei denen sich jede Zelle seiner Haut sträubte, seine Kehle austrocknete, sein Magen rebellierte. »So ist es besser, die Luft ist frisch«, sagte der alte Mann und tätschelte sein Bein. Seine Hand war von braunen Flecken übersät, seine Finger krumm, die Nägel gelb und gerieft. Die Falten auf seinem Gesicht gruben sich tief ein, und es kam Gaspard vor, als müsse sich die Haut im nächsten Augenblick lösen und träge auf die von der Wolldecke verhüllten Knie fallen. »Wohin gehen wir?«, fragte
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